Im Schatten des Vaters
derart beschämt hätte. Aber so war es. Jetzt wollte er sich die Geschichte so zurechtlegen, dass die Ereignisse traurig, aber auch irgendwie unvermeidlich wirkten. Dass es schwer gewesen sei für Roy, aber wie schwer, das habe er nicht gemerkt, weil Roy nichts gesagt habe. Hätte Jim es doch nur gewusst, sie wären auf der Stelle abgereist, aber er hätte es unmöglich wissen können.
Dann widerten Jim diese Gedanken an. Er konnte seinen eigenen Verstand nicht ertragen.Mitte Januar, und noch immer war niemand gekommen. Eigentlich bemerkenswert. Die Welt schien sie vergessen zu haben, obwohl sie wahrscheinlich kaum zehn Meilen von ihrem eigentlichen Standort entfernt waren. Jim nahm an, dass man ihre Hütte mit dem Blut auf dem Fußboden und den zertrümmerten Funkgeräten und dem fehlenden Boot inzwischen gefunden hatte. Der Sheriff oder irgendjemand hatte daraufhin gewiss die Gegend abgesucht, aber Jim hatte keinen einzigen Hubschrauber und kein Flugzeug gehört und seit Wochen kein Boot mehr gesehen und überhaupt nie eins, das nah genug herangekommen wäre.
Jims Vorräte gingen zur Neige, und er hatte vor lauter Sparsamkeit abgenommen. Er aß nur noch eine Mahlzeit am Tag, dazwischen kleine Happen. Nach seinen Berechnungen reichte das Essen auf diese Weise noch höchstens ein, zwei Monate, danach würde er Algen essen oder verhungern.
Er schlief jetzt die Nächte durch und manchmal sogar einen Teil des Tages. Das war am einfachsten und verbrauchte kein Essen, nicht mal Brennholz. Er hatte mehrere große Stücke aus seinem Gummiboot geschnitten, um sie auf seine Decke und die Laken zu legen, und trug einen zusätzlichen Pullover, den er gefunden hatte, sowie die Kleider, in denen er gekommen war. Er hatte bald drei Monate nicht mehr gebadet. Soweit er es beurteilen konnte, roch er schon beinahe wieder sauber.
Grübeleien versuchte er in dieser Zeit zu vermeiden. Wenn sie losgingen, fixierte er etwas, eine Deckenbohle oder die Dunkelheit selbst, um sich darin zu verlieren, den Gedanken keinen freien Lauf zu lassen, wobei sich das nicht immer verhindern ließ. Sie wiederholten sich und waren beharrlich. Roy, wie er sagt, dass er wegwill. Immer wieder sah er diese Szene vor sich, bekam sie nicht aus dem Kopf. Ein weitererwiederkehrender Gedanke bezog sich auf seine Nachbarin Kathleen in Ketchikan, die erste Frau, mit der er hatte fremdgehen wollen. Ständig sah er den grauen Nachmittag vor sich, da er auf der nachbarlichen Seitenveranda gestanden, mit Kathleen geplaudert und sie gefragt hatte, ob sie rüberkommen wolle, Elizabeth sei nicht zu Hause. Der Abscheu in ihrem Gesicht. Sie hatte genau gewusst, worauf er hinauswollte. Elizabeth im Krankenhaus, schwanger mit Tracy. Nicht das beste Timing, erkannte er jetzt. Er dachte auch an Essen. Milchshakes insbesondere. Die wollte er am liebsten. Und gegrillte Koteletts. Hauptsächlich dachte er an Roy, und er besuchte ihn, wenn es draußen ruhig war und er sich rastlos fühlte.
Der Hügel war vom Regen eingedrückt worden; das Grab war jetzt eine von Pilzen und Farn überwucherte Mulde. Zunächst hatte er die Pilze herausgerissen, weil er sie lästerlich fand, doch als sie immer wieder nachwuchsen, ließ er sie irgendwann stehen, grauweiße Knollen und spitzere kleine Kegel wie Tipis. Er fragte sich, wie lange ein Nylon-Schlafsack brauchte, um sich zu zersetzen, und stellte sich vor, dass es wohl sehr lange dauerte.
Du lebst noch, sagte er eines Tages zu Roy. Ich habe darüber nachgedacht. Du erfährst nichts mehr; das Leben hat für dich aufgehört, als du gestorben bist. Aber mir passieren deswegen dauernd Dinge, und das macht dich lebendig, auf gewisse Weise. Und weil sonst keiner Bescheid weiß, weil deine Mutter nicht Bescheid weiß, bist du noch nicht ganz tot. Du stirbst noch mal, wenn sie es erfährt, und danach wird sie dich lange lebendig halten. Und selbst wenn wir alle tot sind, wird irgendjemand diesen Schlafsack ausgraben und dich wiederfinden. Wobei sie dich wahrscheinlich schon früher ausgraben. Um sicherzugehen, dass du es bist. Nachallem, was passiert ist, werden sie mir so schnell nichts mehr abnehmen.
Er sprach gern laut mit Roy, also machte er es sich zur Gewohnheit. Wenn nicht gerade mieses Wetter war, ging er nachmittags hinaus und plauderte eine Weile. Er plauderte über eine bevorstehende Rettung und über das Wetter, und hin und wieder gestand er ihm etwas. Ich war ungeduldig, sagte er zu Roy. Das weiß ich. Ich hätte mich etwas
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