Im Schatten des Vogels
flattert auf. Die Zöpfe lösen sich, und mein Haar weht in der Brise. Ich lache laut, singe und biete der ganzen Welt die Stirn. Fliege weiter.
Da sind der Gletscher, die Wolken darüber und das Schloss, in die Höhe gezimmert und schön. Schon von Weitem nehme ich den Kaffeeduft wahr. Reite in rasendem Galopp auf den Hof zu. Einar ist draußen und läuft mir entgegen, als er mich sieht.
«Engel! Was ist los mit dir?»
Das Pferd ist nass geschwitzt. Ich rutsche vom Rücken und drücke Einar.
«Mutters Kaffeekanne ist sicher warm, oder?», frage ich und lache. Merke im selben Moment, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte. «Ist Papa zu Hause?», frage ich schnell weiter, nicht mehr ganz so ausgelassen.
Er antwortet nicht und führt mich ins Haus. Dann sieht er mir in die Augen und sagt mit leiser Stimme: «Weißt du nicht mehr, dass Mutter gestorben ist? Und hast du vergessen, dass Papa fast nur noch im Bett liegt?»
Ich werfe mich auf den alten Diwan in der Wohnstube, und die Tränen fließen. Als das Weinen nachlässt, sehe ich mich um. Der Tisch mit der gehäkelten Decke, die braune Porzellankanne,die Anrichte und das Bild von Maria, die heute schweigt wie ein Grab. Alles und wiederum nichts ist so, wie es war. Einar sitzt bei mir und hält meine Hände. Die Lider fallen zu, und ich dämmere weg.
Es ist Abend, als ich aufwache, mich einen Moment zu Papa setze, der nicht begreift, warum ich wieder gehe. Klammert sich an mich. Ich verspreche, bald mit allen Kindern zurückzukommen. Dann reiten Einar und ich los. Begegnen Stefán, der auf der Suche nach mir ist. Einar begleitet uns den ganzen Weg. Ich bin froh darüber, habe Angst, Vigfús unter die Augen zu treten, weiß aber, dass er sich vor meinem Bruder zurückhalten wird.
Vigfús gibt keinen Ton von sich, und ich lege mich gleich hin. An meinem Bett lässt Einar eine Büchse mit Kaffeebohnen zurück.
«Gieß sie auf, wenn dir nach Kaffee ist, Engelchen!», flüstert er. «Bei mir kannst du immer Bohnen bekommen.» Dann geht er. Meine Augen füllen sich mit Tränen, ich schließe sie schnell und schlafe ein.
In den nächsten Tagen komme ich nicht auf die Beine. Die Kraft, die mich erfüllt hat, als ich losgeritten bin, ist auf und davon. Ich ziehe die Decke über den Kopf und weine. Wie konnte ich bloß von meinen Kindern weglaufen, ohne daran zu denken, dass sie sich verletzen könnten? Habe nicht daran gedacht, dass sie da sind. Was für eine Mutter bin ich, dass ich sie allein zurücklasse? Und wie kann es sein, dass ich mich nicht mehr daran erinnere, dass Mutter tot ist? Obwohl wir doch den kleinen Guðmundur direkt neben ihr begraben haben.
Ich würde Vigfús, der bei mir am Bettrand sitzt, so gernealles erklären. Das kommt nicht wieder vor. Ich verstehe mich selbst nicht, muss mich besser im Griff haben, verspreche es hoch und heilig. Sieht er denn nicht, dass ich den besten Willen habe? Morgen schaffe ich es aus dem Bett.
Doch Vigfús hört nicht zu. Dann steht er auf und geht in den Stall.
Ich erhole mich wieder, mache aber alles langsam. Halte meinen Kurs, nähe oder spiele lieber Orgel, als mich zu sehr im Haushalt zu verausgaben. Die Kinder sind in meiner Nähe. Wir singen und plaudern, und ich versuche den Dreck in der Küche zu vergessen. Vergesse alles, was auf mich wartet und um das ich mich eigentlich kümmern müsste. Genieße die Zeit mit den Kindern. Und sie gehen mir bei der Haus- und Hofarbeit zur Hand.
Oft ist es, als würde Katrín spüren, was ich denke. Dann macht sie sich schnell an den Abwasch, nimmt Ingi mit und beauftragt Stefán, Wasser zu holen. Ich denke an Mutter und ihre Namensvetterin. Sie hätte Freude daran gehabt, das zu beobachten.
Eines Tages kommt Ingi heulend und zerlumpt nach Hause. Er ist in eine Schlägerei geraten. Katrín ist ihm dicht auf den Fersen, packt ihn, und ich habe das Gefühl, dass sie ihren Bruder bremsen will – Ingi aber schreit: «Sie sagen, dass du verrückt bist, Mutter!»
Ich lasse die Kurbel der Nähmaschine los. Alles dreht sich vor meinen Augen.
Schaffe es, aufzustehen, und breite die Arme aus, doch da schreit Ingi noch lauter: «Das sagen sie, diese verfluchten Esel vom unteren Hof!»
«Du sollst nicht darüber reden, Ingi. Das ist bloß Lalli, der das sagt, und der ist so ein Trottel!» Katríns Stimme zittert.
«Du bist nicht verrückt, Mutter! Stimmt’s?», fragt er noch aufgeregter und zittert schluchzend. Dann wirft er sich in meinen Arm. Ich bin verkrampft,
Weitere Kostenlose Bücher