Im Schatten des Vogels
schnell in die Höhe geschossen, Vigfús über den Kopf gewachsen. Er ist hübsch, und ich bin sicher, dass ihm die Mädchen noch schöne Augen machen werden. Obwohl er das lebende Abbild seines Vaters ist, sind die beiden innerlich grundverschieden. Stefán ist verträumt und liest alles, was er in die Finger bekommt.
Er sitzt oft an der Orgel und spielt, möchte mehr lernen.Einmal hat er davon gesprochen, dass er nach Rom gehen und dort in den Kirchen spielen möchte. Vor Glück wurde mir ganz warm, und ich musste an Sveinn und unsere alten Träume denken. Vigfús gegenüber hat er sicher noch nichts erwähnt, aber ich verspreche, ihm den Rücken zu stärken, wenn es so weit ist.
Katrín ist nur ein halbes Portiönchen, hat aber Biss und ist das fleißigste aller Kinder. Sie will gemeinsam mit ihrem Bruder konfirmiert werden, sagt, dass ohnehin nur ein Jahr zwischen ihnen liege und es so geschickter sei. Sie hat so viel Sinn fürs Praktische! Der Katechismus fließt wie Wasser in sie hinein – meinetwegen kann sie zur Konfirmation gehen. Doch Vigfús hat wenig für Sonderwege übrig – aller Wahrscheinlichkeit nach sind er und Pfarrer Jóhann dagegen. Ich unterstütze sie selbstverständlich. Sie will unter keinen Umständen ein Miedergewand tragen, und ich werde ihr ein schönes Kleid nähen. Den Stoff aus Reykjavík habe ich längst da. Auch für Stefáns Kleider. Muss mich beeilen, früh anfangen. Vor Konfirmationen habe ich immer viel zu tun.
Die Heilsbringerin Jórunn hat es geschafft, die Strickmaschine zu ruinieren! Ich hatte mich einen kurzen Moment hingelegt und wurde durch Lärm unten in der Wohnstube geweckt. Katrín jammerte, Anna heulte und Jórunn kreischte.
Ich war gerade dabei, die Konfirmationskleider zu nähen, strickte zwischendurch aber auch Unterwäsche – eine Bestellung aus dem Landesinneren, die ich versprochen hatte so schnell wie möglich fertigzustellen. Die Maschine stand auf einem niedrigen Tisch an der Wand, so, wie ich sie hinterlassen hatte. Die Maschen der Unterhose waren noch in Ordnung, aber ich sah gleich, dass die Maschine kaum noch zu gebrauchen war.
Mir wurde schwindlig vor Wut. Die Maschine, die Papa mir geschenkt hatte, die er neu aus Reykjavík bestellt hatte und die noch jahrelang hätte halten sollen. Drohend trat ich auf Jórunn zu. Sie hielt einen Arm schützend vor den Kopf, floh in die Küche, ich hinterher.
«Sie hat sich auf die Maschine gesetzt!», schrie Anna.
«Mein einer Fuß tat plötzlich weh, und ich musste mich so schnell wie möglich setzen», jammerte Jórunn. «Wegen all dem verfluchten Kram hier kann man sich nirgendwo hinsetzen.» Dann wurde sie selbstsicherer. «Ich habe mich nur einen winzigen Moment hingesetzt, mehr hat das dumme Ding nicht ausgehalten.»
Mehr hat das dumme Ding nicht ausgehalten, hallte es in meinen Ohren nach. Das dumme Ding namens Jórunn müsste mein Haus verlassen, und zwar sofort!
«Raus!», sagte ich und wies zur Tür.
Da lachte sie und sagte mir knallhart ins Gesicht, dass sie in Vigfús’ Dienst stünde und von niemand anderem als ihm Anweisungen annehme. Zuallerletzt von einer Verrückten!
«Es könnte auch schwierig für euch werden, mitten im Winter eine neue Magd zu finden», sagte sie und hatte vor lauter Erregung rote Flecken im Gesicht und am Hals. «Die Mädchen stehen nicht gerade Schlange, um für verrückte Leute zu arbeiten. Viele wundern sich, dass ich es hier überhaupt aushalte.»
«Raus!», sagte ich noch einmal, nahm den Schürhaken und hob ihn in die Luft. Da lief sie schreiend los und Vigfús in die Arme, der den Lärm gehört hatte und ins Haus geeilt war.
«Was soll das, Weib?», brüllte er barsch und packte den Schürhaken.
«Jórunn geht zu sich nach Hause», sagte ich eiskalt.
«Ich bin es, der das entscheidet», antwortete Vigfús unwirsch. Ich hielt mich an der Stuhllehne fest, um nicht hinzufallen.
«Nein», sagte ich und erkannte meine eigene Stimme nicht wieder. Sie war tief und gelassen. «Ich bin es, die das entscheidet.»
Vigfús sah verwirrt zwischen uns hin und her. Nicht gewohnt, dass ich so reagierte.
«Jórunn hat sich auf Mutters Strickmaschine gesetzt und sie kaputt gemacht», sagte Katrín laut und deutlich.
«Und sie hat furchtbar hässliche Dinge über Mutter gesagt», rief Anna und heulte wieder los. «Ich will nicht, dass sie hier ist. Sie muss gehen.»
«Und ich will keine Stunde länger in diesem Irrenhaus bleiben!», kreischte Jórunn und machte
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