Im Schatten dunkler Mächte
-Seherin. Sie ist so umfangreich, dass man sie in eurer armseligen Sprache nicht definieren kann â genau wie es für meinen Namen keine adäquate Ãbersetzung gibt. Wir erfassen so viel, dass wir die Dinge aufs Wesentliche reduzieren müssen. Obschon wir lange mit eurem Volk Umgang hatten, haben wir euch nie unser wahres Gesicht gezeigt. Euch ist es unmöglich, unsere wirkliche Gestalt zu betrachten. Wenn ich dir zeigen würde â¦Â« Er verstummte.
»Wenn du mir was zeigen würdest, Vâlane?«, hakte ich leise nach und steckte mir einen Cracker mitgefrorenem Kaviar in den Mund. Ich hatte noch nie Kaviar gegessen. Und ich würde es auch nie wieder tun. Rhino-Boy-Fleisch war genieÃbarer. Hastig vertilgte ich eine Erdbeere und spülte mit Champagner nach.
Vâlane lächelte. Offenbar hatte er geübt. Sein Lächeln wirkte jetzt sanfter, nicht mehr so fremd. Sofort wurde es wieder wärmer, und das Eis schmolz. »Unwichtig. Du wolltest mehr über unsere Ursprünge wissen.«
Ich wollte mehr über das Buch wissen. Aber ich war auch sehr neugierig auf alles andere, was er zu erzählen bereit war. »Woher weiÃt du von der Geschichte eures Volkes, wenn du aus dem Kelch getrunken hast?«
»Wir haben unser Wissen aufgeschrieben. Die meisten nehmen sich die Schriften sofort vor, nachdem sie aus dem Kelch getrunken haben, um sich vertraut damit zu machen, wer und was wir sind.«
»Ihr vergesst, euch zu erinnern.« Eigentümlich. Und schrecklich, fand ich. Es war bestimmt furchtbar, so paranoid zu sein und so lange zu leben, dass man dem Wahnsinn anheimfiel. Wiedergeboren zu werden, ohne je richtig gestorben zu sein. Voller Angst, an einen so seltsamen Ort voller heimtückischer Intrigen zurückzukommen. »Der Seelie-König wollte mehr«, führte ich ihn zum eigentlichen Thema zurück.
»Ja. Er neidete der Königin das Schöpfungslied und flehte sie an, ihn zu lehren, dieses Lied zu singen. Er hatte sich in eine Sterbliche verliebt, die er nicht aufgeben wollte, ehe er seine Begierde nach ihr gänzlich gestillt hatte. Aber die Liebe schien nicht zu schwinden. Sie war ⦠etwas Besonderes für ihn. Ich hätte meine Konkubine einfach mit einer anderen ausgetauscht. Aber er bat die Königin, sie zu einem Feenwesen zu machen.«
»Kann die Königin das? Jemanden zum Feenwesen machen?«
»Ich weià es nicht. Der König glaubte es. Die Königin weigerte sich, also versuchte der König, das, was er suchte, zu stehlen. Als sie ihn ertappte, bestrafte sie ihn und hoffte, dass sich seine Leidenschaft für die Sterbliche erschöpfte. Aber die Liebe wurde nicht schwächer. Er fing an, mit niederstehenden Feenwesen zu experimentieren, in der Hoffnung, das Lied ohne Hilfe zu lernen.«
»Was waren das für Experimente?«
»Ein Mensch würde es vielleicht als fortgeschrittene genetische Mutation oder als Klonen ohne DNA oder physische Materie begreifen. Er versuchte, Leben zu erschaffen, MacKayla. Und er hatte Erfolg. Und zwar ohne das Schöpfungslied.«
»Aber ich dachte, das Lied ist Leben. Wie konnte er ohne das Lied Leben erschaffen?«
»Es war unvollkommen â fehlerhaft.« Er schwieg eine Weile, dann fügte er hinzu: »Doch es lebte und war unsterblich.«
Ich kapierte und schnappte nach Luft. »Er hat die Unseelie erschaffen!«
»Ja. Die Dunklen sind die Kinder des Königs. Viele tausend Jahre experimentierte er und hielt seine Arbeit vor der Königin geheim. Es gab immer mehr Unseelie, und sie hatten enormen Hunger.«
»Aber seine sterbliche Frau muss doch längst gestorben sein. Was hatte das alles dann noch für einen Sinn?«
»Sie lebte und führte ein Dasein in einem Käfig, den er kreiert hatte. Aber sie verwelkte in der Gefangenschaft, deshalb hat er für sie die Durchlässigen Spiegelgeschaffen und ihr Welten geschenkt, die sie erforschen konnte. Die Zeit verstreicht auÃerhalb dieser Spiegel, aber nicht innerhalb. Man kann tausend Jahrhunderte darin verbringen und ist, wenn man heraustritt, keine Stunde älter.«
»Ich dachte, die Spiegel dienen dazu, zwischen den Bereichen hin- und herzugelangen.«
»Auch dafür werden sie benutzt. Sie sind ⦠komplizierte Objekte, erst recht, seit sie verflucht wurden. Als die Königin die Kraft der Spiegel spürte, rief sie den König zu sich und
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