Im Schatten (German Edition)
Gesicht und wirkte eher frisch, doch in der letzten Zeit zeigten sich immer deutlicher Spuren der Anstrengung. Es waren nicht nur die vielen Überstunden, die ihr zu schaffen machten. Immer wieder fing Werner abends mit Diskussionen darüber an und wollte nicht einsehen, dass sich alles erst einmal einspielen musste. Anstatt sie ein wenig zu entlasten und selbst Hand im Haushalt anzulegen, beschwerte er sich darüber, dass das Essen in der letzten Zeit eine Spur einfacher war als früher. Und als sie ihn tatsächlich einmal darum gebeten hatte, das Treppenhaus für sie zu feudeln, weil sie vor Müdigkeiten nicht mehr aufrecht stehen konnte, hatte er sie angestarrt, als hätte sie etwas Unflätiges von ihm verlangt. Glücklichweise hatte Norman die Szene mitbekommen und sich schweigend daran gemacht, die Aufgabe zu erledigen. Überhaupt hatte ihr Sohn in der letzten Zeit wesentlich mehr Verständnis und Hilfsbereitschaft an den Tag gelegt als früher. Entschlossen griff sie nun zu ihrem Abdeckstift und kaschierte die verräterischen Ränder. Heute Abend, so nahm sie sich vor, würde sie sich zurückziehen und eine entspannende Gesichtsmaske auftragen. Valerie sah an sich herunter und wieder einmal das kleine Bäuchlein und die etwas zu breiten Hüften. Viel zu lange hatte sie dies als gegeben und unabänderlich hingenommen, interessierte sich doch sonst auch niemand dafür. Unwillkürlich musste sie an den Blick denken, den Mark wenige Tage zuvor auf Tinas Po geworfen hatte und in dem trotz des Ärgers auch eine Spur von Verlangen gelegen hatte. Ihr hatte schon lange niemand mehr solche Blicke zugeworfen. Männer sahen sie als Nachbarin, Kollegin oder Fremde auf der Straße, und nach so vielen Ehejahren war auch ihr Mann gegenüber ihrem Aussehen abgestumpft. Silberhochzeit hatten sie vor einigen Monaten gefeiert. »Gefeiert« war gut, Valeries Mutter und die Schwiegereltern waren gekommen, und sie hatte zwei Tage mit den Vorbereitungen verbracht: Einen Tag mit Wohnung putzen, den anderen mit Torten backen und Essen kochen. Es war ein stiller Tag gewesen, Feierlaune war nicht aufgekommen. Werner jedenfalls schien es egal zu sein, was für eine Figur sie hatte, also warum sollte sie jetzt noch, in ihrem Alter, etwas gegen die überflüssigen Pfunde tun? »Unsinn!«, rief plötzlich eine aufgebrachte innere Stimme. »Du bist noch jung, stehst mitten im Leben, hast noch so viel vor dir.« Ja, vor zwei-, dreihundert Jahren war es sicherlich anders gewesen. Damals wäre sie nun schon eine alte Frau gewesen. Doch heutzutage schien es doch beinahe so, als finge das Leben für Frauen in den Vierzigern erst richtig an. Entschlossen strich sie ihren Rock zurecht. Es war nur ein Bäuchlein und ein wenig zu viel auf den Hüften. Die paar Pfundchen sollten doch wohl leicht in den Griff zu bekommen sein.
Doch es stimmte nicht ganz, nicht mehr ganz, dass kein Mann sie mehr als Frau betrachtete. Zumindest konnte man diesen Eindruck bekommen, seit Mark in ihr Berufsleben getreten war. Erst seither hatte sie angefangen, sich überhaupt darüber Gedanken zu machen, hatte registriert, wie sehr ihr ein wenig Freundlichkeit, ein nettes Wort aus dem Mund eines Mannes fehlten. Noch immer fiel es Valerie in manchen Situationen schwer, den richtigen Umgangston mit ihrem neuen Chef zu finden. Während Herr Burzig die Gruppe mit respektvoller Distanz geführt hatte, war Marks Stil die freundliche und charmante Nähe zu seinen Leuten, und dass sie wesentlich älter als er war, machte es nicht einfacher. Außerdem flirtete er mit ihr, bis die Schwarte krachte. Dabei war sie die mit Abstand älteste und unattraktivste Kollegin im Team. Annabelle und Andrea waren beide unter dreißig Jahren, Gesa zweiunddreißig, von Tina ganz zu schweigen. Es verunsicherte sie. Wollte er sie aufziehen? Er konnte es unmöglich ernst meinen. Gleichzeitig hatte sie bereits nach wenigen Wochen gemerkt, wie sie geradezu auf ein freundliches Wort, ein Kompliment aus seinem Mund wartete. Wer konnte es ihr verdenken? Wie lange war es her, dass sie etwas Nettes gehört hatte? Ging es nur ihr so? Oder behandelte er die anderen genauso? Es gehörte offenkundig zu seinem Führungsstil, die weiblichen Mitglieder seiner Crew um den Verstand zu flirten. Und es war auf jeden Fall wirkungsvoll. Sie würde auch auf dem Kopf stehend für ihn zeichnen, wenn er es verlangte, stellte sie bestürzt fest.
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21 . April 2008
Eigentlich war Katherine schon recht müde nach
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