Im Schatten (German Edition)
dem Tag, der hinter ihr lag: Vorlesungen und anschließend das Treffen mit ihrer Arbeitsgruppe, mit der sie zwei- bis dreimal in der Woche zusammen lernte. Danach hatte sie noch ihre Einkäufe erledigt und war dann, wie fast jeden zweiten Abend, zu ihrem Vater gefahren. Norman und Werner hatten sich halbwegs mit dem Alltagsleben arrangiert. Mittags aßen sie in der Kantine oder in Kneipen in der Nachbarschaft, die Mittagstisch anboten. Ihr Bruder sorgte in seinem Reich auch für Ordnung und Sauberkeit, doch Werner tat sich noch immer schwer damit. So musste Katherine notgedrungen mit anfassen, wenn ihr Vater nicht im Chaos versinken sollte. Sie übernahm die Wäsche, saugte und feudelte regelmäßig und putzte das Badezimmer. Nach getaner Arbeit saß sie dann noch einige Zeit bei ihrem Vater, auch wenn die trübe Stimmung sie bedrückte. Werner sprach kaum ein Wort, starrte nur trübsinnig vor sich hin und schien kaum mehr am Leben teilzunehmen. An diesem Abend sehnte Katherine sich besonders nach Hause. Sven hatte versprochen, nach Dienstschluss zu ihr zu kommen und auch wenn er ihren Wohnungsschlüssel hatte, wollte sie ihn nicht lange warten lassen. Doch irgendetwas hielt sie davon ab, zu gehen. Sie hatten in den letzten Wochen kein Wort über ihre Mutter, geschweige denn ihren Tod gesprochen, und auch heute starrte Werner dumpf auf die Bilderflut der Werbefilme im Fernsehen, wenn auch der Ton ausgeschaltet war. Nie hatte Katherine ihn weinen sehen oder andere Zeichen von Trauer. Auch nicht bei der Beerdigung, und sie fragte sich manchmal, ob er überhaupt etwas für ihre Mutter empfunden hatte. Einem Impuls folgend strich sie ihm sanft über die Hand, die ein wenig verkrampft auf der Armlehne seines Sessels lag. Eine Weile saßen sie so, bis Werner unvermittelt das Schweigen brach:
» Es ist alles meine Schuld. Ich habe sie unglücklich gemacht.«
Katherine sagte nichts, widersprach nicht, versuchte auch nicht, ihn zu trösten. Sie hatte das Gefühl, er müsse sich aussprechen und wollte ihm nicht den mühsam zu sammengesammelten Mut nehmen. Daher wartete sie, und erst als er keine Anstalten machte weiterzusprechen, fragte sie:
» Wie habt ihr euch eigentlich kennen gelernt?«
Erstaunt gestand sie sich selbst ein, dass sie nur wenig über das frühe Leben ihrer Eltern wusste.
»Auf einer Party«, antwortete Werner. »Ein Freund von mir hat eine Fete gefeiert und seine Schwester hat ein paar Freundinnen mitgebracht. Valerie war damals sechzehn, ich einundzwanzig. Wir haben uns sehr gut verstanden und uns an dem Abend gleich für ein weiteres Treffen verabredet.«
Aus anfänglicher Verliebtheit hatte sich schnell eine feste Beziehung entwickelt und Valerie, für die durch das Vorbild ihrer Eltern eine Ehe das höchste Glück auf Erden zu sein schien, hatte gegen eine frühe Heirat noch während ihrer Ausbildung nichts einzuwenden gehabt.
» Damals war ich noch schlank und sportlich, und mein Haar war voll und dunkel«, erzählte Werner weiter. Die ersten Jahre hatten sie in einer kleinen Wohnung gelebt, doch dann, nachdem Werner den besser bezahlten Job angenommen hatte, waren sie in diese Wohnung gezogen. Die neue Arbeit hatte jedoch den Nachteil, dass Werner fast nie zu Hause gewesen war. Er war auf Montage in verschiedenen europäischen Ländern gewesen und oft wochenlang fort. So hatten sie sich immer weiter voneinander entfernt.
» Es gibt verdammt schöne Frauen auf der Welt, und die Verlockung ist sehr groß, wenn du jung und allein bist«, erzählte Werner leise und schuldbewusst.
Nach einiger Zeit vergeblichen Wartens hatten sich die Kinder eingestellt , und Valerie hatte aufgehört zu arbeiten. Wenn Werner dann nach Hause kam, waren beide so voll mit Erlebnissen erfüllt, die sie loswerden mussten – er von seinen Ausflügen in den fremden Ländern, sie von den Geschehnissen mit den Kindern –, dass der andere oft überfordert war. Als Norman schließlich in den Kindergarten kam und Valerie wieder arbeiten konnte, suchte Werner sich einen weniger gut bezahlten Job am Ort. So landete er als eine Art Hausmeister bei einer Behörde, das absolute Kontrastprogramm zu seiner bisherigen Arbeit – langweilig und unbefriedigend. Valerie dagegen kam im Architekturbüro von Herrn Burzig unter und fühlte sich von Anfang an sehr wohl.
» Ich reagierte immer eifersüchtiger, wenn sie von ihrem interessanten Job sprach, während ich bei meiner Arbeit vor Langeweile beinahe gestorben wäre. So erzählte sie
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