Im Schatten meiner Schwester. Roman
müssen.« Als sie aufsah, steckte sie sich das Haar hinters Ohr. »Molly, würdest du bitte da anrufen? Sie soll außerdem morgen in Hanover vor einer Gruppe Sechstklässler reden. Sag ihnen, sie sei krank.«
»Krank« war eine echte Untertreibung, wie Molly wusste. Und wie sollte man an so einem Ort nicht krank sein – an dem Lichter blinkten, Apparate piepten und das rhythmische Zischen des Beatmungsgeräts eine ständige Erinnerung daran war, dass der Patient nicht allein atmen konnte? Zwischen Telefonen und Alarmknöpfen war es noch schlimmer als draußen im Gang.
Molly hatte sich eine Pause davon gegönnt, Kathryn jedoch nicht. »Du siehst erschöpft aus, Mom. Du brauchst Schlaf.«
»Den bekomme ich schon.«
»Wann?«, fragte sie, doch Kathryn antwortete nicht. »Was ist mit Frühstück?«
»Eine der Schwestern hat mir einen Saft gebracht. Sie hat gesagt, das Wichtigste ist es jetzt zu reden.«
»Ich kann doch reden«, bot Molly an, die verzweifelt helfen wollte. »Warum nimmst du nicht mein Auto, fährst heim und ziehst dich um? Robin und ich haben eine Menge zu besprechen. Ich muss wissen, was ich mit den Kisten voller Turnschuhe in ihrem Schrank machen soll.«
Kathryn warf ihr einen Blick zu. »Rühr sie nicht an.«
»Weißt du, wie alt manche davon sind?«
»Molly …«
Molly beachtete die Warnung nicht. Im Streiten lag eine gewisse Normalität. »Wir müssen in einer Woche raus sein, Mom. Die Turnschuhe können nicht da bleiben, wo sie sind.«
»Dann pack sie ein und bring sie mit dem Rest eurer Sachen nach Hause. Wenn du ein neues Haus findest, bringen wir sie dorthin. Und dann ist da natürlich noch die Sache mit ihrem Auto, das irgendwo am Straßenrand zwischen hier und Norwich steht. Ich werde Chris schicken, es zu holen. Ich kann immer noch nicht glauben, dass du sie nicht hingefahren hast.«
Molly konnte es auch nicht, doch das war nur im Nachhinein so. Im Moment zeigte Robin absolut keine Anzeichen, dass sie das Gespräch mitbekam. Und plötzlich schaffte es Molly nicht mehr, so zu tun, als ob irgendetwas hier normal wäre. Über alte Turnschuhe zu sprechen, wenn die Läuferin an lebenserhaltende Apparate angeschlossen war?
Ihr klopfte das Herz bis zum Hals, als sie Robin ins Gesicht sah. Als Kind hatte Molly oft darauf gewartet, dass ihre Schwester aufwachte; ihre Augen hatten an ihrem Gesicht gehangen, und mit jedem Atemzug hatte sich die Hoffnung erhöht oder wieder gesenkt. Molly wäre im Moment für jede Bewegung dankbar gewesen.
»Wenn du Hilfe beim Packen brauchst«, sagte Kathryn, »frag Joaquin. Schau auf seinen Plan, wenn du nach Snow Hill kommst.«
»Ich will eigentlich hierbleiben«, beharrte Molly.
»Hier geht es nicht darum, was du willst, Molly. Es geht darum, was am meisten hilft. Jemand muss in Snow Hill sein.«
»Chris wird da sein.«
»Chris kann nicht mit den Leuten reden. Du schon.«
Molly spürte, wie ihr die Tränen kamen. »Ich bin ein Pflanzenmensch, Mom. Ich kann mit Pflanzen reden. Und das hier ist meine Schwester, die da liegt. Wie kann ich da arbeiten?«
»Robin würde wollen, dass du arbeitest.«
Robin würde es wollen? Molly kämpfte gegen Hysterie an. Robin hatte noch nie in ihrem Leben achtundvierzig Stunden in der Woche gearbeitet. Sie lief, sie trainierte andere, sie winkte, und sie lächelte – alles dann, wann sie wollte. Sie hatte ein Büro in der Gärtnerei und war auf dem Papier verantwortlich für besondere Anlässe, doch ihre praktische Mitarbeit war minimal. Am Tag dieser Anlässe war sie öfter weg als anwesend. Sie war Sportlerin und keine Kranzbinderin oder eine Bonsai-Spezialistin, wie sie Molly mehr als einmal erklärt hatte.
Aber Kathryn das jetzt noch einmal zu sagen wäre genauso grausam, wie laut zu fragen, was geschehen würde, sollte Robin nie wieder aufwachen.
Snow Hill war seit seinem Beginn vor mehr als dreißig Jahren im Familienbesitz. Es breitete sich über hundertsechzig Hektar bestes Land aus und war berühmt für Bäume, Büsche und Gartenbedarf. Doch sein Kronjuwel – mit Solarzellen, die die Sommerhitze für den Winter bewahrten, einem Mechanismus, um Regenwasser zu recyceln, und einer computergesteuerten Feuchtigkeitskontrolle – war ein hochmodernes Gewächshaus. Das war Mollys Domäne.
Selbst nachdem sie vorbeigekommen war, um Robin zu besuchen, war sie die Erste, die in Snow Hill eintraf. Das Gewächshaus war in ihrer Kindheit Mollys Hafen in Zeiten des Stresses gewesen, und auch wenn sie sich
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