Im Schatten meiner Schwester. Roman
nicht in Ordnung.« Flehend wandte sie sich an Charlie. »Wir brauchen ein anderes Gerät, ein anderes Krankenhaus, irgendwas anderes.«
Kathryn hatte sich ursprünglich wegen seines Schweigens in Charlie verliebt. Seine ruhige Unterstützung war die perfekte Folie für ihr eigenes lauteres Leben. Er musste nicht sprechen, um mitzuteilen, was er fühlte. Seine Augen drückten alles aus. Im Moment lag in ihnen eine seltene Traurigkeit.
»Bedeutet Hirnschaden hirntot?«, flüsterte sie verängstigt, doch er antwortete nicht. »Hirntot bedeutet tot, Charlie!«
Als er versuchte, sie an sich zu ziehen, leistete sie Widerstand. »Robin ist nicht hirntot.«
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4
M olly war fassungslos. »Hirntot?«, fragte sie von der Tür her.
Kathryn sah sie an. »Sag es ihnen, Molly. Sag ihnen, wie lebendig deine Schwester ist. Sag ihnen, was sie nächstes Jahr für Pläne hat. Erzähl ihnen von den Olympischen Spielen.«
Molly starrte ihre Schwester an. Hirntot hieß, dass sie niemals mehr aufwachen würde, dass sie niemals mehr selbständig atmen, niemals mehr sprechen würde. Nie wieder.
In Tränen aufgelöst ging sie zu ihrem Vater. Er nahm ihre Hand.
»Sag es ihnen, Molly«, flehte Kathryn.
»Sind sie sich sicher?«, fragte Molly Charlie.
»Die Tomographie deutet auf schweren Hirnschaden hin.«
Molly war genauso verzweifelt wie ihre Mutter und wandte sich an den Neurologen. »Können Sie ihr nicht einen Schock versetzen oder so?«
»Nein. Totes Gewebe reagiert nicht.«
»Aber was, wenn es nicht ganz tot ist? Gibt es keinen anderen Test?«
»Ein EEG «, erwiderte er. »Das wird zeigen, ob es noch irgendeine elektrische Aktivität im Hirn gibt.«
Molly musste nicht fragen, was es hieß, wenn es keine gäbe. Sie wusste, dass ihre Mutter dasselbe dachte, als Kathryn schnell einwarf: »Es ist zu früh für diesen Test.«
Doch Molly brauchte eine Grundlage für ihre Hoffnung. »Willst du es denn nicht wissen, Mom? Wenn es noch elektrische Aktivität gibt, dann hast du die Antwort.«
»Robin ist nicht hirntot«, beharrte Kathryn.
»Wir gehen nicht leichtfertig mit diesem Ausdruck um, Missis Snow«, sagte der Arzt. »Wir bedienen uns der Harvard-Kriterien, wonach zwei EEG s mit einem Tag dazwischen gemacht werden müssen. Der Patient wird erst als hirntot angesehen, wenn beide die völlige Abwesenheit von elektrischer Aktivität anzeigen.«
»Wir müssen das machen, Mom«, drängte Molly. »Wir müssen es wissen.«
»Warum?«, fragte Kathryn scharf. »Damit sie die Apparate ausschalten können?« Sie löste sich von Charlie und nahm Robins Hand und beugte sich zu ihr. »Der New-York-Marathon wird wunderbar werden. Wir wohnen im Peninsula, ja, Süße?« Sie sah zu den Ärzten auf und erklärte: »Marathonläufer lassen ihr Training in der Woche vor dem Wettkampf auslaufen. Wir dachten, dass wir ein bisschen einkaufen gehen.«
Der Intensivarzt lächelte mitfühlend. »Wir müssen das EEG nicht gleich machen. Es ist noch Zeit. Denken Sie darüber nach.«
»Kein EEG «, befahl Kathryn, und keiner widersprach ihr.
Kurz darauf war Molly allein mit ihren Eltern. Kathryn redete wieder mit Robin, als ob sie sie hören könnte. Es war verständlich. Robin hatte immer im Zentrum aller Aktivitäten der Familie gestanden. Sooft Molly das auch gehasst hatte, sie konnte sich nicht vorstellen, dass es einmal nicht so wäre.
Es war, als ob man eine Orchidee zurückschneiden würde, die einmal wunderschön gewesen war, und nicht wusste, ob sie jemals wieder heranwachsen würde. Etwas, was einmal schön gewesen war … nun vielleicht tot.
Kathryn unterbrach ihre Gedanken. »Ich brauche dich wirklich in Snow Hill, Molly. Bitte widersprich mir darin nicht.«
Gut. Molly würde nicht streiten. Doch es gab schlechte Nachrichten. »Ich komme gerade von dort. Tami Fitzgeralds Bruder ist Sanitäter. Er hat ihr von Robin erzählt.« Als sie Kathryns erschrockenen Blick sah, fügte sie hinzu: »Er hat nicht viel gesagt. Aber Tami hat gefragt. Ich habe nur gesagt, dass Robin wieder in Ordnung kommt.«
»Das ist gut.«
»Aber nicht lange, Mom. Es wird sich verbreiten. Hanover ist kein großer Ort, und die Laufgemeinde ist eine verschworene Gemeinschaft. Und Robin hat überall im Land Freunde – überall auf der Welt. Sie werden anrufen.« Sie sah sich um und erblickte die Plastiktüte, die auf dem Boden neben der Wand lag. Darin waren Robins Kleider und ihr Täschchen. »Ist ihr Handy auch da?«
»Ich habe es«, antwortete Kathryn.
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