Im Schatten meiner Schwester. Roman
Schaden zu begrenzen.
Kathryn fragte sich, ob Molly recht hatte. Robin würde vielleicht tatsächlich wissen wollen, was ihr bevorstand. Das Problem war, dass Kathryn es nicht wollte. Sie wollte zuerst eine Verbesserung sehen, weshalb es nicht gut war, wenn Molly Gerüchte verbreitete. »Warum musste sie es Jenny erzählen?«
Charlie zog sich einen Stuhl heran. »Weil wir sie in eine unhaltbare Position gedrängt haben. Wie kann sie mit einer Freundin von Robin reden und ihr nicht sagen, dass Robin krank ist? Wirklich, Kath, an dem, was sie getan hat, ist nichts falsch. Was mit Robin passiert ist, ist keine Schande. Es ist eine medizinische Krise. Wir könnten die Gebete der Menschen brauchen.«
Diesmal widersprach Kathryn wegen der Gebete nicht. Sie hatte bereits selber ein paar gesprochen. Die Ärzte waren den ganzen Morgen hereingekommen und wieder hinausgegangen, hatten Robin untersucht, und sie hatten Kathryn die Hoffnung tatsächlich nie verweigert, gaben ihr aber nur sehr wenig, an dem sie sich festhalten konnte. Dasselbe mit dem Atemtherapeuten, der jede Stunde nachschauen kam und sich weigerte zu sagen, ob er eine Veränderung in Robins Atmung sah. Und die Schwestern? So mitfühlend sie auch waren, wenn sie immer wieder Robins Reaktionen testeten, sie beantworteten Kathryns Fragen doch nur sehr vorsichtig. Einmal zu oft war ihr gesagt worden, dass Patienten sich von der Art Hirnschaden nicht mehr erholten, den Robin erlitten hatte.
Charlie nahm ihre Hand. »Molly hat recht. Es nicht zu wissen ist das Schlimmste.«
Kathryn wusste, worauf er hinauswollte. »Du willst das EEG .«
»Ich will gar nichts.« Dieser Ausbruch war bei ihm so selten, dass er noch mehr Gewicht hatte. »Aber wir können nicht zurück«, fügte er hinzu. »Die Robin, die wir gekannt haben, gibt es nicht mehr.«
Kathryns Augen füllten sich mit Tränen, als sie ihre Tochter wieder ansah. Robin war ein aktiver Säugling gewesen, ein energisches Kleinkind, ein nicht zu bändigendes Kind. »Das kann ich nicht akzeptieren«, flüsterte sie.
»Das wirst du vielleicht müssen. Denk an Robin. Woher sollen wir wissen, was wir für sie tun können, wenn wir das Ausmaß der Schädigung nicht kennen?«
Das war eine Variation von Mollys Argument. Und es war nicht von der Hand zu weisen.
»Du liebst Robin wahnsinnig«, fuhr Charlie fort. »Das hast du immer getan. Keiner würde das in Frage stellen.«
»Ich habe so viel für sie gewollt.«
»Sie hat so viel gehabt«, drängte er. »Sie hat in ihren zweiunddreißig Jahren mehr erlebt als viele Leute sonst, und du warst die treibende Kraft dahinter.«
»Ich bin alles, was sie hat.«
»Nein. Sie hat mich. Sie hat Molly und Chris. Sie hat mehr Freunde als irgendeiner von uns. Und wir lieben sie. Ja, Molly auch. Molly hat stets in ihrem Schatten leben müssen, was nicht immer lustig ist, aber sie vergöttert ihre Schwester. Sie verheimlicht viel für sie.«
»Glaubst du ihr das mit Duluth?«, fragte Kathryn in einem Anflug von Zweifel.
»Wie sollte ich das nicht? Du hast dir das selbst zuzuschreiben, meine Liebe. Keine Tochter erzählt ihrer Mutter alles, vor allem, wenn sie weiß, dass es sie enttäuschen wird.«
»Ich wäre nicht enttäuscht gewesen, wenn Robin mir erzählt hätte, dass sie ein vergrößertes Herz hat. Besorgt, das ja.«
»Du hättest sie davon abgehalten zu laufen.«
»Wahrscheinlich.«
»Was, wenn sie das nicht wollte? Was, wenn sie das Risiko eingehen wollte? Sie ist erwachsen, Kathryn. Das ist ihr Leben.«
Ist?, dachte Kathryn. Oder war? Sie hatte Molly kritisiert, weil sie die Vergangenheitsform verwendet hatte, doch wenn Charlie recht hatte und die Robin, die sie gekannt hatten, nicht mehr da war, dann hatte sich alles verändert.
Sie hatte immer geglaubt, sie kenne Robin durch und durch und dass Robin das wollte, was auch sie wollte. Wenn das nicht so war und wenn Robin jetzt ihre Wünsche nicht mehr äußern konnte, wie konnte Kathryn dann wissen, was sie tun sollte?
Das war nicht der Zeitpunkt für eine Selbstvertrauenskrise, doch Kathryn litt trotzdem unter einer. Es war lange her, seit sie zuletzt so eine Krise gehabt hatte. Sie war in dieser Hinsicht eingerostet.
Selbstvertrauenskrisen waren in ihrer Jugend die Norm gewesen, so etwas wie eine Familientradition. Ihr Vater George Webber war Holzfäller, dann Schreiner gewesen, dann Maurer, dann Gärtner. Beim ersten Anzeichen von Entmutigung auf einem Feld ging er zum nächsten weiter. Dasselbe war
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