Im Schatten meiner Schwester. Roman
mit ihrer Mutter Marjorie, die ein wenig Heimarbeit betrieb – zuerst Pullover strickte, dann Tragetaschen nähte, dann das Vermont-Äquivalent von Nantucket-Körben webte. Alles, was sie hervorbrachte, war schön – oder zumindest fand Kathryn das. Wenn das Geschäft lief, stimmte Marjorie zu, doch beim ersten Anzeichen einer Verlangsamung sattelte sie um.
Kathryn lernte von ihren Eltern. Sie schwamm in der Mannschaft der Stadt, bis sie erkannte, dass sie immer nur zweite Wahl sein würde, und wandte sich dem Geigespielen zu. Als sie nicht mehr als zweite Geige in der Highschool werden konnte, wandte sie sich der Schauspielerei zu. Als sie nicht darüber hinauskam, im Chor des Highschool-Musicals zu singen, wandte sie sich der Kunst zu.
Damals lernte sie Natalie Boyce kennen. Sie war die Leiterin der Kunstabteilung der Highschool und ein Freigeist, der gerne wilde Kleider trug und redete, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Kathryn war fasziniert von ihrem Selbstvertrauen und konnte ihrer Entschlossenheit nichts entgegensetzen, denn beides kannte sie kaum von zu Hause. Auf Natalies Vorschlag hin begann sie, mit Wasserfarben zu malen. Sie vertiefte sich in die Grundlagen von Pinselbeherrschung, Palette, Struktur und Farbe, und sie blühte auf unter Natalies Ermutigung. Natalie liebte es, wie sie mit Linien und Formen umging, und erkannte in ihrem Werk ein natürliches Gefühl für Raum, doch sie sah auch, wie schüchtern sie mit Farbe umging. Kathryn versuchte, kühner zu werden, doch ihr Leben bestand mehr aus gedämpften Tönen als aus lebhaften. Also schaltete sie von Wasserfarben auf Ton um.
Natalie wollte nichts davon wissen. Sie redeten. Sie stritten. Ihre Diskussionen gingen über die Kunst hinaus und betrafen das Leben selbst.
Kathryn kehrte zu den Wasserfarben zurück. Sie arbeitete in ihren letzten beiden Jahren an der Highschool verbissen daran. Als sie sich an der Kunstakademie bewarb, war die Stärke ihres Portfolios ihre Verwendung von Farbe. Doch erst als sie ihr Elternhaus verließ, konnte sie ausdrücken, was sie gelernt hatte.
Ihre Eltern waren liebevoll und wollten für ihre Familie sorgen, wollten es so sehr, dass sie von einer Sache zur nächsten wanderten, auf der endlosen Suche nach dem ganz großen Treffer. Doch sie begriffen nicht, dass große Treffer nicht einfach so passierten, sondern dass man dafür Talent, Konzentration und harte Arbeit brauchte.
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6
D ie Freunde in der Halle waren Läufer, die an einem kleinen Tisch zusammensaßen, ein Knäuel aus Leinen, Elastan und Rucksäcken. Molly erkannte in ihnen Studenten aus Dartmouth, mit denen Robin oft trainierte. Sie hatten keine Verbindung zu Jenny Fiske.
Wenn sie das gewusst hätte, wäre sie nicht hinausgerannt. Doch nun war es zu spät. Sie war von ihnen umgeben, bevor sie sich zurückziehen konnte.
»Meine Cousine war gestern Abend mit ihrem kleinen Jungen in der Notaufnahme«, erklärte einer. »Wie geht es Robin?«
»Äh … wir wissen es noch nicht genau«, brachte Molly heraus.
»Ich bin vor drei Tagen mit ihr gelaufen, und da ging es ihr gut«, sagte ein anderer.
Und ein Dritter: »Wir haben erst gestern in der Buchhandlung miteinander gesprochen.«
»Ich habe es von Nick Dukette gehört«, warf ein Vierter ein.
»Nick?«
»Zeitungs-Nick. Er hat es heute Morgen im Polizeibericht gesehen, und er weiß, dass ich Robin kenne. Er hat gesagt, ihr Zustand ist kritisch.«
Molly war außer sich. Nick behauptete, sie seien gute Freunde, doch wenn das so war, hätte er sie zuerst anrufen sollen. Aber sie hatte ihr Handy auf Vibrieren eingestellt und war abgelenkt genug gewesen, um es nicht zu merken.
Sie zog das Handy jetzt hervor und scrollte nach unten. Okay, da war es. Ein entgangener Anruf von Nick. Keine Nachricht.
Nick war Reporter bei der größten Zeitung des Staates. Als Molly ihn kennenlernte, hatte er allgemeine Aufträge gehabt, doch inzwischen war er Chef der Lokalnachrichten; aber seine Stärke darin, eine Story auszukundschaften, machte ihn beim nächsten Wechsel zu einem Kandidaten für einen investigativen Reporter. Wie Robin besaß er Starqualität. Und er war hungrig. Er hatte stechende blaue Augen, die entweder bohrend oder charmant sein konnten, und er setzte sie gut ein. Wäre er Anwalt gewesen, wäre er Notarztwagen nachgejagt. Er war süchtig nach Nachrichten.
Molly bewunderte seine Hartnäckigkeit, doch es gab auch eine Kehrseite. Was Nick wusste, konnte schon bald vielleicht die ganze
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