Im Schatten meiner Schwester. Roman
Welt wissen.
Kathryn wäre entsetzt und würde sicher Molly die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Sie musste mit ihm reden.
Doch zunächst diese Läufer. Robins offiziellen Zustand zu leugnen war absurd. Die Frage war, wie viel sie noch sagen sollte, und der Schlüssel dazu war, es ruhig zu sagen. Die Halle war nicht leer. Eine Frau und ihre Tochter dösten auf einem Sofa, und eine Familie saß zusammengekuschelt auf einem anderen.
Molly beugte sich zu der Gruppe hinüber. »Offiziell ist der Zustand immer noch kritisch«, sagte sie, weil jeder, der im Krankenhaus anriefe, das hören würde. »Wir warten auf weitere Tests.«
»Wurde sie von einem Auto angefahren?«
»Nein. Es ist eine innere Sache.«
»Innen wie innere Organe?«
Molly nickte schnell.
»Kommt sie wieder in Ordnung?«
»Das hoffen wir.«
Einen Moment herrschte Schweigen, dann ging ein leises Sperrfeuer los.
»Können wir irgendwas tun?«
»Braucht sie etwas?«
»Positive Gedanken«, antwortete Molly und schrak kurz zusammen, als eine der Frauen, die sie nicht kannte, sie umarmte. Sie war noch überraschter, als sie merkte, dass ihr die Wärme fehlte, als die Frau sich wieder zurückzog. Unfähig zu sprechen, winkte sie dankbar und begab sich mit dem Handy in der Hand zur Tür.
Draußen vor der Halle wartete, einen halben Kopf größer als Molly, der Gute Samariter. Seine Krawatte hing locker, sein Kragen war nicht zugeknöpft. Er wirkte sichtlich erleichtert, als sie stehen blieb. Doch wie hätte sie das auch nicht können, erinnerte sie sich doch deutlich an die Szene von vorhin? Ihr erster Gedanke war, sich für das scheußliche Benehmen ihrer Mutter zu entschuldigen, doch er kam ihr zuvor.
»Wie geht es ihr?«
Molly rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf.
Er gab ein niedergeschlagenes Geräusch von sich. »Ich wusste es. Es war schlimm. Sie war klamm und kalt. Es war furchtbar. Sobald die Sanitäter übernommen haben, bin ich gegangen.« Er wirkte gequält. »Ich bin einfach ausgeflippt. Ihr Name stand dort auf dem Schuhschild, und nachdem ich ihn gelesen habe, erkannte ich ihr Gesicht. Sie ist das Idol aller Läufer, und da war ich und versuchte, sie zum Atmen zu bringen. Es hat aber nichts geholfen, oder?«
Molly zögerte und schüttelte dann den Kopf.
»Hirntot?«, flüsterte er.
Sie hob eine Schulter, sie konnte es diesem Mann gegenüber nicht leugnen, der ganz eindeutig die richtigen Schlüsse gezogen hatte.
Er schien in sich zusammenzusinken. »Ich denke andauernd, dass ich, wenn ich schneller gewesen wäre, früher dort angekommen wäre.«
Molly schlang die Arme um sich. »Wenn Sie auf einer anderen Straße gewesen wären, hätten Sie sie gar nicht gefunden.«
»Ich hätte bleiben, vielleicht mit dem Unfallwagen mitfahren sollen; doch sie kannte mich nicht, und deshalb war es ja nicht so, als ob ich ein Freund war, der mit einer Freundin fuhr.«
»Ich bin ihre Schwester«, platzte es aus Molly heraus, »und ich hätte eigentlich dieses Rennen verfolgen sollen, aber ich hatte anderes zu tun. Wissen Sie, was für Schuldgefühle ich habe?«
Er zuckte nicht mit der Wimper. »Ja, das tue ich. In der Minute, als die Sanitäter übernommen haben, drehte ich mich um und rannte nach Hause, damit ich duschen und wieder zurück in die Schule gehen und Eltern überzeugen konnte, dass ich ein guter, fürsorglicher Mensch bin, der dafür geeignet ist, ihre Kinder zu unterrichten. Als ob ich mich wirklich auf die Arbeit hätte konzentrieren können.«
O Mann, konnte Molly ihm da zustimmen. In ihrem Büro zu sitzen war ein Witz gewesen. Sie konnte nicht arbeiten, während ihre Schwester an lebenserhaltenden Apparaten hing.
Nick jedoch arbeitete, und sie musste ihn unbedingt erreichen. Sie zeigte auf Robins Zimmer und sagte: »Ich muss telefonieren.« Dann ging sie los, blieb noch mal stehen und drehte sich um. Sie war wirklich froh, dass er zurückgekommen war. »Danke.«
»Ich habe nicht genug getan.«
»Sie hat nicht geatmet. Sie haben getan, was Sie konnten. Sie lebt jetzt nur wegen Ihnen.« Als er immer noch gequält dreinschaute, lächelte sie. »Vergessen Sie, was meine Mom gesagt hat. Sie muss jemandem die Schuld geben. Eines Tages wird sie Ihnen selbst danken.«
Diesmal ging sie weiter, an Robins Zimmer vorbei zu einer Stelle am Fenster, wo ihr Handy ein Netz hatte. »Ich bin’s«, sagte sie, als Nick abnahm.
Mehrere Sekunden hörte man das Gesumme in einer Nachrichtenredaktion, dann ein leidenschaftliches:
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