Im Schatten meiner Schwester. Roman
werden, meckerte Molly und empfand mit dem nächsten Atemzug bereits Reue. Robin hatte schwer gearbeitet, um dahin zu gelangen, wo sie jetzt war. Und he, Molly war am Renntag genauso stolz auf sie wie alle anderen.
Es kam ihr nur so vor, als ob Rennen das Leben von ihnen allen beherrschen würde.
Von Abneigung zu Reue und wieder zurück war so ein langweilig endloser Kreislauf, dass Molly froh war, als sie endlich vor dem Krankenhaus vorfuhr. Das Dickenson-May lag auf einer Klippe über dem Connecticut River im Norden der Stadt. Die Kulisse wäre zauberhaft gewesen, wenn es nicht die Gründe gegeben hätte, aus denen die Leute hier waren.
Molly eilte hinein, nannte am Empfang der Notaufnahme ihren Namen und fügte hinzu: »Meine Schwester ist hier.«
Eine Schwester näherte sich und machte ihr ein Zeichen zu einer Kabine am Ende des Flurs, wo sie erwartete, Robin zu sehen, die ihr von einer Trage aus zulächelte. Doch was sie sah, waren Ärzte und Apparate, und was sie hörte, war nicht das verlegene
O Molly, ich habe es schon wieder geschafft
ihrer Schwester, sondern das Flüstern düsterer Stimmen und das rhythmische Piepen von Apparaten. Molly sah nackte Füße – mit Hornhaut, eindeutig die von Robin –, doch sonst nichts von ihrer Schwester. Zum ersten Mal empfand sie Unruhe.
Einer der Ärzte kam zu ihr herüber. Es war ein hochgewachsener Mann mit einer großen schwarz gerahmten Brille. »Sind Sie ihre Schwester?«
»Ja.« Durch den Platz, den er frei gemacht hatte, erhaschte sie einen Blick auf Robins Kopf – kurzes dunkles Haar, das wie immer zerzaust war, doch ihre Augen waren geschlossen, und ein Schlauch klebte über ihrem Mund. Erschrocken flüsterte Molly: »Was ist los?«
»Ihre Schwester hatte einen Herzinfarkt.«
Sie wich zurück. »Einen was?«
»Sie wurde bewusstlos von einem anderen Läufer auf der Straße aufgefunden. Er wusste genug, um mit Wiederbelebungsmaßnahmen zu beginnen.«
»Bewusstlos? Aber sie ist doch wieder zu sich gekommen, oder?« Sie musste nicht bewusstlos sein. Ihre Augen könnten auch aus purer Erschöpfung geschlossen sein. Wenn man fünfzehn Meilen lief, konnte das passieren.
»Nein, sie ist noch nicht wieder zu sich gekommen«, antwortete der Arzt. »Wir haben Krankenhausberichte über sie herangezogen, doch da wird kein Herzproblem erwähnt.«
»Weil es keines gibt«, erwiderte Molly, schlüpfte hinter ihn und ging ans Bett. »Robin?« Als ihre Schwester nicht reagierte, sah sie zum Schlauch. Er war nicht die einzige beunruhigende Sache.
»Der Schlauch verläuft zu einem Ventilator«, erklärte der Arzt. »Diese Drähte sind verbunden mit Elektroden, die ihren Herzschlag messen. Die Manschette misst ihren Blutdruck. Die Infusion ist für Flüssigkeit und Medikamente.«
»So viel so schnell?« Molly schüttelte vorsichtig Robins Schulter. »Robin? Kannst du mich hören?«
Robins Lider blieben zu. Ihre Haut war farblos.
Molly bekam es immer mehr mit der Angst zu tun. »Vielleicht wurde sie von einem Auto angefahren?«, fragte sie den Arzt, da dies mehr Sinn ergab, als dass Robin mit zweiunddreißig Jahren einen Herzinfarkt hatte.
»Es gibt keine andere Verletzung. Als wir die Brust geröntgt haben, um die Atemröhre zu untersuchen, konnten wir den Herzschaden sehen. Im Moment ist der Herzschlag normal.«
»Aber warum ist sie denn immer noch bewusstlos? Hat man ihr ein Beruhigungsmittel gegeben?«
»Nein. Sie hat immer noch nicht das Bewusstsein wiedererlangt.«
»Dann versuchen Sie es nicht genug«, beschloss Molly und rüttelte wie wild am Arm ihrer Schwester. »Robin? Wach auf!«
Eine große Hand legte sich beruhigend auf ihre. Leise sagte der Arzt: »Wir befürchten, es gibt einen Hirnschaden. Sie reagiert nicht. Ihre Pupillen reagieren nicht auf Licht. Sie reagiert nicht auf Stimmen. Kitzeln Sie sie am Zeh, piksen Sie sie am Bein, es gibt keine Reaktion.«
»Sie kann doch keinen Hirnschaden haben«, beharrte Molly – vielleicht absurderweise, doch die ganze Szene war schließlich absurd. »Sie ist im Training.« Als der Arzt nichts entgegnete, wandte sie sich wieder an ihre Schwester. Die Apparate blinkten und piepten mit der Regelmäßigkeit von, ja, von Apparaten, doch sie waren unwirklich. »Herz oder Hirn – was nun?«
»Beides. Ihr Herz hat aufgehört zu pumpen. Wir wissen nicht, wie lange sie auf der Straße lag, bevor sie gefunden wurde. Eine gesunde Anfangdreißigerin könnte vielleicht zehn Minuten brauchen, bevor der Mangel an
Weitere Kostenlose Bücher