Im Schatten meiner Schwester. Roman
später hatte er, was er wollte.
Selbstgefällig lehnte er sich zurück. Dass Oliver Harris’ Sohn in der Nähe unterrichtete, war ein Glücksfall. Der Typ wusste es noch nicht, doch er würde bald seinen neuen besten Freund kennenlernen. Nun, fast seinen neuen besten Freund kennenlernen. Es würde ein wenig Feingefühl vonnöten sein. Und da kam Molly ins Spiel.
Er beugte sich wieder vor und suchte nach ihrer E-Mail-Adresse, doch da stand Robins direkt darunter in seinem Adressbuch, und bei dem Gedanken an Robin drehte sich ihm der Magen um. Also schrieb er eine Nachricht an Robin. Sie war nicht lang. Das war keine der üblichen Nachrichten, die er ihr schickte. Er wollte nur, dass sie wusste, dass sie einen Grund hatte, gesund zu werden.
Zutiefst traurig schickte er sie ab. Dann nahm er sich Mollys Adresse vor und schrieb nur: »Nachdem ich Dich gestern Abend verlassen habe, habe ich versucht, den Artikel über Robin zu vernichten, doch er war bereits in Druck gegangen. Ich werde niemandem sagen, was Du mir erzählt hast, und es wird nichts Neues geben, bis Du damit einverstanden bist. Du kannst mir vertrauen. Ich bin immer noch geschockt wegen Robin, aber es muss für Dich ja noch schlimmer sein. Kann ich etwas tun, um zu helfen?«
David Harris musste nichts ablesen. Er saß auf einer Ecke seines Pults seinen Achtklässlern gegenüber. »Vor siebenundachtzig Jahren brachten unsere Väter auf diesem Kontinent eine neue Nation ans Licht …«
Er rezitierte die ganze Rede während geschlagener zwei Minuten und war dankbar, dass seine Schüler lauschten. »Denkt über die Worte nach«, sagte er zu ihnen und wiederholte die Rede. Er wurde langsamer an den Stellen, die ihn immer am meisten berührt hatten, und gipfelte in: »… wir waren zutiefst entschlossen, dass diese Toten nicht umsonst gestorben sind …«
Von den Themen, die er in amerikanischer Geschichte lehrte, war der Bürgerkrieg sein liebstes. Er hatte jedes wichtige Schlachtfeld besichtigt, wusste, dass sechshundertzwanzigtausend Tote den Bürgerkrieg zum blutigsten Krieg des Landes machten und dass zweihunderttausend Jungen unter sechzehn im Laufe der vier Jahre in den Reihen gekämpft hatten. Er wusste auch, dass Ulysses S. Grant Alkoholiker gewesen war, bevor er zum höchsten General der Union aufstieg, und dass Stonewall Jackson von den Konföderierten an Komplikationen einer Wunde starb, die ihm einer seiner eigenen Männer zugefügt hatte. Von allen Dingen über den Bürgerkrieg liebte er diese zwei besonders. Sie boten Lektionen darüber, wie gefährdet das Leben war und wie süß die Buße.
David identifizierte sich mit beidem. »Das Leben kann sich in einer Sekunde wenden«, sagte sein Vater immer. »Die Richtung, in die du gehst, wenn es so weit ist, macht den Unterschied aus.« Oliver Harris war stolz auf das, was er in jenen entscheidenden Momenten seines Lebens getan hatte. Die lange Liste seiner Erfolge löschte die paar Niederlagen aus, die er erlitten hatte. David hatte keine Liste, hinter der er sich verstecken konnte. Er war erst einunddreißig. Alles, was er tat, war sichtbar.
Er dachte darüber nach, während er die Grundlage für die Konföderierten Staaten von Amerika legte, von der Sezession, Lincolns Vereidigung und den Schüssen in Fort Sumter sprach, doch sein Blick kehrte immer wieder zu Alexis Ackerman zurück. Mit ihrem dunklen Haar, das sie streng aus dem Gesicht gekämmt trug, und ihrem enganliegenden T-Shirt sah sie knochig und noch bleicher als sonst aus.
Zu schnell läutete die Glocke. Er hatte kaum Zeit, die Hausaufgabe zu erwähnen, bevor er von dem Geraschel von Rucksäcken und dem Schlurfen von Schülern übertönt wurde, die den Raum verließen. Er drehte sich gerade wieder zu seinem Pult um, als er es mehrfach keuchen hörte.
Alexis lag am Boden neben ihrem Pult und klammerte sich am Stuhl fest. Er eilte den Gang entlang. »Ihr könnt alle gehen«, drängte er die anderen fort und hockte sich neben sie.
»Ich weiß nicht, was passiert ist«, hauchte sie nur. »Meine Beine haben einfach nicht mehr funktioniert.«
»Ist dir schwindlig?«
»Nein, ich bin nicht ohnmächtig geworden.« Obwohl ihr Gesicht keine Farbe hatte, hievte sie sich hoch.
Er stand auf, um ihr Platz zu lassen, doch als er sagte: »Ich bringe dich zur Schulschwester«, wurden ihre Augen groß, zu groß für ihr winziges Gesicht.
»Nein, mir geht es gut. Wirklich. Ich muss nur was essen.« Sie sammelte ihre Sachen ein.
Er ahnte,
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