Im Schatten meiner Schwester. Roman
dass sie direkt die Salatbar ansteuern und sich Kopfsalat nehmen würde. »Du hast noch mehr abgenommen, Alexis.«
»Nein, ich halte mein Gewicht.«
»Bei wie viel?«, fragte er.
»Ich sehe nur in diesen Kleidern dünner aus«, sagte sie, ohne seine Frage zu beantworten. Sie schwebte an ihm vorbei und ging zur Tür. Mit einem entschuldigenden Blick schaute sie zurück. »Es geht mir echt gut, Mister Harris. Das war nur ein komisches Irgendwas.« Sie wandte sich ab und verschwand im Gang.
David musste auch etwas essen, doch anstatt die Cafeteria anzusteuern, ging er nach draußen, die Treppen der Mittelschule hinab und über die Straße zum Verwaltungsgebäude. Der Direktor hatte ein Büro im zweiten Stock. Er war am Telefon, als David eintraf, doch die Tür stand offen. Er bedeutete David zu warten.
Nun, da man ihn gesehen hatte, gab es kein Zurück mehr. Sonst hätte David vielleicht seinen Mut verloren. Er hatte nicht gerade die beste Bilanz, wenn es um gefährliche Situationen ging. Die Dinge schienen ins Auge zu gehen oder zumindest mehr Sorgen zu verursachen, als für die Betroffenen gut war. Es war in Ordnung für seinen Vater, wenn er Reden darüber hielt, dass sich das Leben innerhalb von Sekunden wenden konnte, doch die Ereignisse, bei denen sich Olivers Leben wendete, hatten mit dem Geschäft zu tun. Selten hatten sie mit dem Charakter zu tun und ganz sicher nicht mit Leben oder Tod, wie es auf der Norwich Road am Montagabend der Fall gewesen war. Molly hatte recht, David hätte Robin nicht wiederbeleben können. Doch was hatte es gebracht?
Und hier war nun Alexis. Ihre Eltern hatten Augen.
Doch Eltern sahen, was sie sehen wollten. Sein eigener Bruder war von den Schmerztabletten ihrer Mutter abhängig gewesen, bevor ein Mathelehrer ihn darauf ansprach, und das auch nur, weil
er
die Anzeichen kannte. Es wurde in aller Stille behandelt. Dieser Bruder, der nun zweiundvierzig war, war für den Posten des Verlegers vorgesehen, wenn Oliver sich zurückzog. So aufmerksam Joan Harris als Mutter auch gewesen war, sie hatte niemals erklärt, warum sie nicht bemerkt hatte, dass ihre Schmerztabletten verschwanden.
»Kommen Sie, David«, rief Wayne Ackerman von seinem Schreibtisch her, und als David im Begriff war, die Tür zuzumachen, sagte er: »Lassen Sie. Unser Ventilator ist im Eimer. Je mehr Luft zirkuliert, desto besser. Was kann ich für Sie tun?«
Wayne war ein unauffälliger Mann mit einer Neigung zu dramatisch dunklen Hemden und Krawatten. Sein Büro, das ganz in dunklem Holz gehalten war, war angefüllt mit Familienbildern in schokoladenbraunen Rahmen. Wayne und seine Frau hatten fünf Kinder; ihre Gesichter waren überall im Büro zu sehen, genauso wie sie überall in der Stadt waren. Doch Waynes Wärme machte nicht bei der Familie halt. Er hielt sich etwas darauf zugute, jeden Lehrer in seinem System zu kennen. Und er war ein Meister darin, die persönliche Verbindung herzustellen. David war schon oft in seinem Büro gewesen.
Dies war das erste Mal, dass er aus eigenem Antrieb gekommen war. Er setzte sich und sagte schnell: »Ich mache mir Sorgen um Alexis.«
»Meine Alexis?«
»Es gab gerade einen Vorfall in meiner Klasse. Sie ist nicht ohnmächtig geworden, aber ihre Beine haben nachgegeben. Ich wollte mit ihr zur Schwester gehen, doch sie hat sich geweigert. Ich mache mir Sorgen, Dr. Ackerman. Sie ist entsetzlich dünn.«
»Sie ist Tänzerin«, erwiderte Wayne. »Tänzerinnen sind immer dünn.« Sein Gesicht erstrahlte. »Haben Sie sie tanzen sehen? Sie wird zur Solotänzerin vorbereitet.«
»Ich habe sie nicht selbst gesehen, aber ich höre, sie ist unglaublich. Ich mache mir nur Sorgen. Tänzer haben oft Essstörungen.«
Wayne tat das mit einem Wedeln der Hand ab. »Ihre Ballettlehrerin würde es uns sagen, wenn sie ein Problem sähe.«
»Selbst wenn extremes Dünnsein Teil der Kultur ist? Ich habe gestern Abend mit jemandem geredet …«
»Über meine Tochter?«, warf Wayne ein.
»Nein, über die allgemeinen Symptome von Anorexie. Ich habe viele davon an Alexis gesehen.«
»Heute, David. Ist Ihnen in den Sinn gekommen, dass sie vielleicht Grippe haben könnte?«
»Das war keine Grippe.«
»Wissen Sie das sicher?«
»Nein«, gestand David ein. »Aber ich mache mir Sorgen, Dr. Ackerman. Ich hatte Alexis auch letztes Jahr in der Klasse. Damals war sie schon dünn, aber die Veränderung während des Sommers macht mir Angst. Sie hängt nicht mit Klassenkameraden herum. Sie sitzt
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