Im Schatten meiner Schwester. Roman
Perspektive.
»Vielleicht war das Problem die Zeit«, überlegte Molly laut. »Das Laufen hat sie aufgefressen. Vielleicht hätte sie, wenn sie älter geworden wäre, auch andere Dinge getan.«
»Was die Tragödie nur noch größer macht«, meinte er und zog ein Handy aus seiner Tasche. Er sah aufs Display.
Sie gab ihm mit einer Geste zu verstehen, er solle den Anruf annehmen. Sie hatte ihn lange genug aufgehalten. Er hatte schließlich ein Leben, musste sich auf den Unterricht von morgen vorbereiten, vielleicht sogar wegen des Mädchens telefonieren, das krank war.
Er runzelte die Stirn. »Dieser Typ versucht schon andauernd, mich zu erreichen, doch ich kenne keinen Dukette.«
Molly verschluckte sich an ihrem letzten Schluck Tee, streckte die Hand aus und sah selber nach. Wütend klappte sie das Handy auf. »Warum rufst du diese Nummer an?« Das folgende Schweigen war lange genug, dass sie sagen konnte: »Wag nicht aufzulegen, Nick. Warum rufst du diesen Mann an?«
»Molly?«
»Gutes Gehör«, spottete sie. »Wo hast du diese Nummer her?«
»Das Schulverzeichnis.«
»Warum?«
»David Harris und ich haben etwas gemein.«
»Habt ihr nicht. Er ist ein aufrichtiger Mensch. Du nicht.«
»Molly …«
»Ich lege jetzt auf, Nick, und wenn ich das getan habe, werde ich diesem Mann erzählen, warum genau ich aufgelegt habe.« Sie klappte das Handy zu. David sah verwirrt aus. »Ich kenne Nick Dukette«, erklärte sie. »Er ist ein wichtiger Journalist bei der örtlichen Zeitung, und er sucht nach einer Story, sucht immer nach einer Story – außer wenn er sich Möglichkeiten ausdenkt, mit meiner Schwester zusammen zu sein. Sie sind eine Zeitlang miteinander gegangen, und nachdem sie sich von ihm getrennt hat, hat er seine Freundschaft mit mir ausgenutzt, um ihr nahe zu bleiben. Ich dachte, er schätze mich als Freundin. Robin hat ihn als das erkannt, was er ist. Wenn du also heute etwas erfährst, dann, dass meine Schwester schlauer ist als ich.«
Sie hielt ihm das Handy hin.
Er legte es auf den Tisch. »Warum ruft er mich an?«
Molly wusste es nicht, doch die Möglichkeiten ließen sie zusammenzucken. »Er will wohl Informationen über Robin. Er hat mich neulich abends mit dir reden sehen und wollte wissen, wer du bist. Ich habe ihm deinen Vornamen gesagt, aber nicht deinen Familiennamen, und ich habe gesagt, du besuchst jemand anderen. Wenn er weiß, dass du der Gute Samariter bist, dann hat er es von den Polizisten erfahren.«
»Sie kennen ihn nicht. Du bist die Einzige, die ihn kennt.«
»Dann weiß er es nicht. Er hat mir gesagt, du kämst ihm bekannt vor, und er ist wirklich sehr gut, was Gesichter angeht. Bist du sicher, dass du ihn noch nie getroffen hast?«
David wirkte wachsam. »Ist er ein engagierter Journalist?«
»Engagiert?«
»Ehrgeizig.«
»Eindeutig«, bestätigte Molly und versuchte jetzt, professionell zu sein. »New Hampshire ist sein Sprungbrett. Er sagt, alles gehe nur um Beziehungen. Er wird hier weggehen, sobald er Einfluss hat.«
»Würde er nach Washington gehen?«, fragte David und klang gedämpft.
»In null Komma nichts. Er weiß alles über die Zeitungen dort.«
»Dann weiß er von meiner Familie. Mein Dad ist der angesagte Verleger. Schau dir ein Bild von ihm an, und du siehst mich in dreißig Jahren. Wir haben dieselben Gesichtszüge.«
Molly lehnte sich zurück. »Dann hat er das gesehen. Es tut mir leid. Wenn er mich nicht mit dir reden gesehen hätte, wärst du in Sicherheit.«
»He, ich bereue es nicht. Außerdem wird er ja vielleicht nicht wieder anrufen.«
»Du kennst Nick nicht. Sei vorsichtig. Er nutzt alle aus.«
David schnaubte. »Ich bin von solchen aufgezogen worden.« Er gab der Bedienung die unterzeichnete Rechnung. »Wollen wir weiterpacken?«
Doch Molly begann sich um ihre Mutter zu sorgen. Als sie ins Krankenhaus zurückkam, fand sie Kathryn allein bei Robin vor. Mit seinen Bildern und zwei gemütlichen Sesseln wirkte das neue Zimmer eher wie ein richtiges Schlafzimmer. Obwohl der Ventilator dasselbe saugende Geräusch von sich gab, lag weniger ein Gefühl von Dringlichkeit in der Luft. Das erschreckte Molly.
»Wo ist Dad?«
»Zu Hause.«
»Ist Chris vorbeigekommen?«
Kathryn nickte.
»Kann ich dir etwas bringen, Mom?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wenn du zum Schlafen nach Hause willst, bleibe ich hier.« Als Kathryn nicht reagierte, fuhr Molly fort: »Nick und ich sind nicht mehr befreundet.«
Das trug ihr einen schnellen Blick
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