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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Bürger hatten entschieden und durften es auch, denn dies war ihr Spektakel: das Fest der Narren.

Kapitel 3
    Quasimodo
    Empört über die unerwartete und pöbelhafte Wendung des Festes, verließen viele der hohen Herren den Großen Saal des Justizpalastes. Andere aber, allen voran Jacques Coppenole, blieben auf ihren Plätzen, um staunend, kreischend, lachend, brüllend, Beifall klat-schend oder schmähend die unzähligen Fratzen, Visagen und Grimassen zu begutachten, die sich, allesamt Aspiranten auf den Titel des Narrenpapstes, durch die steinumrandete Lücke in einer hübschen Türrosette schoben. Ort des Wettbewerbs war die kleine Kapelle gegenüber der großen Marmortafel. Die Anwärter und Anwärterinnen –
    denn es mochte statt eines Papstes auch eine Narrenpäpstin gewählt werden – mußten bloß zwei jenseits der Tür aufgestapelte Tonnen ersteigen und zeigen, zu welchen Verwerfungen und Verrenkungen ihres Gesichts sie fähig waren.
    Am lautesten schrie und stöhnte die Meute bei einer Erscheinung, die sich so schwer in Worte fassen läßt wie der Zauber der ersten Ver-liebtheit oder die Erregung des mittellosen Hungernden, der zusieht, wie ein dampfendes Brot aus dem Ofen gezogen wird. Was sich da oben durch die Rosette schob, hatte weniger mit einem menschlichen Gesicht gemein als manche der abschreckenden Dämonenfiguren an der Kathedrale von Notre-Dame, von denen man nur hoffen kann, daß sie wirklich bloß aus Stein sind.
    Die fratzenhafte Parodie eines menschlichen Antlitzes wirkte, als habe sich ein wahnsinnig gewordener Bildhauer einen Spaß daraus gemacht, alles zu entstellen, was an einem Gesicht ins Unnatürliche ver-

    ändert werden kann. Mittelpunkt des verwucherten Gewebes war eine gewaltige vierkantige Nase, ein wahrer Zinken, der sich über ein huf-eisenförmiges Maul reckte. Das beherbergte lückenhafte und krumm stehende Zähne der unterschiedlichsten Größe. Einer war so gewaltig, daß er wie der Hauer eine Ebers über die schwieligen Lippen ragte, selbst wenn das Teufelsmaul geschlossen war. Beim ersten Hinsehen schien die Kreatur nur über ein Auge zu verfügen: das linke, das sehr klein erschien, dafür aber von einer mächtigen roten Braue überwuchert wurde. Erst ein zweites Hinschauen verriet, daß das rechte Auge sehr wohl vorhanden, aber dermaßen von einer gigantischen Warze überwachsen war, daß es seinem Besitzer keinen Nutzen bringen konnte und dieser mit Fug und Recht als Einäugiger bezeichnet werden durfte. Das Kinn war gespalten wie von einem Axthieb, den der wahnsinnige Erschaffer dieser Dämonenfratze in einem seltenen lichten Augenblick gegen seine Kreatur geführt hatte. Auch der klobige Schädel hätte sicher manche Missbildung offenbart, wäre er nicht gnä-
    dig von einem dichten Filz strubbeligen roten Haares verdeckt worden.
    »Mein Gott!« krächzte ich in das allgemeine Aufstöhnen. »Wer –
    oder was – ist das?«
    »Das ist der Glöckner von Notre-Dame«, antwortete Joannes du Moulin und erfreute sich an meiner Verwirrung. »Fürwahr, das ist Quasimodo, mein Bruder!«
    Sein Bruder? Bevor ich den blonden Teufel noch um eine Erklä-
    rung bitten konnte, kletterte er, gefolgt von seinen Freunden, in den Saal hinab. Sie tauchten in die Menge ein, die auf die kleine Kapelle zu drängte und unter lautem Geschrei ihren Narrenpapst feierte: »Quasimodo, Quasimodo!« – »Der Glöckner ist der Häßlichste von allen, hässlicher noch als der Teufel!« – »Quasimodo ist der Teufel!« – »Nein, er ist der Papst!« – »Wo liegt der Unterschied?«
    Während ich zusah, wie das begeisterte Volk die seltsame Gestalt von den Tonnen zerrte, erinnerte ich mich, den nicht minder seltsamen Namen Quasimodo schon gehört zu haben, am selben Morgen, von Maître Philippot Avrillot, dem mitleidigen Zölestiner.

    Jetzt, da der Glöckner seine ganze Gestalt offenbarte, wirkte er noch grotesker. Es schien, als habe der verrückte Schöpfer in einem Anfall von Raserei, von Hass auf alles Menschliche, nicht nur das Gesicht, sondern den ganzen Mann verunstaltet. Quasimodo schleppte einen Buk-kel auf seinen Schultern herum, so groß, daß er sogar noch die Brust ausbeulte. Die Beine waren so verdreht und verwachsen, daß sie sich nur an den Knien berührten. Normales Gehen war der unglaublichen Kreatur unmöglich; statt dessen war sie auf ein seltsames, schwankendes Schlurfen angewiesen. Paradoxerweise lag in diesen ungelenken Bewegungen eine gewisse Behendigkeit, auf eine

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