Im Schatten von Notre Dame
königstreue Armee, von den Dragowiten auf dem Konzil von Béziers aufgehetzt, anno 1243 die Bergfestung, um sie zu zerstören.«
»Und um den Sonnenstein zu rauben?«
»Gewiß. Doch zunächst sah es so aus, als sei den Belagerern kein Glück beschieden. Die Festung Montségur thront auf einem steilen Berg, dessen Kuppe, der Pog, von schroffen, steilen Klippen geschützt wird. Rundherum gibt es nichts als Stein und Schnee, also kaum Dek-kung für Angreifer. Die eingeschlossenen Reinen zählten fünfhundert, ihre Gegner aber sechstausend oder mehr. Dennoch gelang es den Soldaten des Königs nicht, einen ganzen Berg abzuriegeln. Auf geheimen Wegen, zwischen zerklüfteten Felsen und unter der Erde hindurch, er-hielten die Guten Menschen Verstärkung, Lebensmittel und Waffen.«
»Waffen?« wunderte ich mich. »Ich glaubte immer, den Katharern sei das Töten anderer Menschen verhaßt gewesen, verboten.«
»Das stimmt. Aber wie soll man dieses Verbot befolgen, wenn der Feind einen bedrängt? Wir mußten kämpfen, um den Sonnenstein zu beschützen. Die Guten Menschen hatten in den langen Jahren ihrer blutigen Verfolgung manch hehren Grundsatz aufgegeben, um gegen die mächtigen Feinde zu bestehen. König und Papst führten einen Krieg gegen sie, und einen Krieg gewinnt man nicht, indem man sich widerstandslos abschlachten läßt.«
Der Geistermönch befeuchtete seine raue, kratzige Stimme mit einem Schluck Wein. »Auf dem Montségur hielten Ritter und Knappen, Bogen- und Armbrustschützen die Stellung. Und sie versahen ihren heiligen Waffendienst nicht schlecht. Erst sah es so aus, als sei den Belagerern ihre Überzahl so hilfreich wie ein Sieb zum Wasserschöpfen.
Aber wer von außen nicht besiegt werden kann, erliegt nur zu leicht von innen. Das Geschwür, das unseren Widerstand zerfraß, bestand aus Verrätern in unseren eigenen Reihen, aus Dragowiten. Sie gaben die geheimen Felswege an die Belagerer preis. Pierre de Arcis, der Seneschall von Carcassone, der das königliche Heer zusammen mit dem Erzbischof von Narbonne befehligte, warb Söldner aus der Gascogne an, Männer, denen der Kampf in den Bergen im Blut lag. Sie erklommen, Bergziegen gleich, auf den nicht länger geheimen Pfaden den Pog, übermannten die Wachen und nahmen die Barbakane am östlichen Klippengipfel ein. Hierauf schafften die Belagerer ein schweres Katapult auf den Berg, das sie in nächster Nähe der Festung in Stellung brachten. Auch wir brachten ein Katapult nach oben und wehrten uns nach Kräften. Doch der Steinregen, der unablässig auf Türme, Dä-
cher und Menschen niederging, lähmte den Kampfgeist. Auch waren die verratenen Geheimwege nicht weiter von Nutzen und die Versor-gung mit Nahrungsmitteln unterbrochen. Hinzu kam, daß der Winter hereinbrach. In den Mauern von Montségur wurde gehungert, ge-froren und gestorben.«
Lag es an der Eindringlichkeit seines Tons, daß ich das Geschilderte mitzuerleben glaubte? Ich spürte die Kälte über meine Haut streichen, fühlte den Schmerz des leeren Magens, der sich vor Entbehrung ver-krampfte, und empfand tiefe Trauer über das Leid, das der Steinregen brachte. Immer neue scharfkantige Brocken krachten in die Gebäu-de, rissen Dächer ein und brachten ganze Mauern zum Einsturz. Wer Glück hatte, starb sofort. Doch viele wurden verwundet, verstümmelt, und ihre Schreie gellten in meinen Ohren.
»Nein!« schrie ich und sprang auf. »Schluß mit dem Wahnsinn!«
Jemand hielt mich fest. Die Nähe gab mir Wärme. Das Wissen, nicht allein zu sein, verlieh mir Zuversicht. Ich blickte in ein fragendes Gesicht, doch es war mehr der Schädel eines Toten. Das erregte Zucken der Gesichtsmuskeln ließ die unzähligen Narben tanzen. Die verunstalteten Lippen öffneten sich, und ich hörte den Narbigen keuchen:
»Beim Herrn der Guten Seelen, er erinnert sich! Er hat die Gabe!«
Ich wollte ihn fragen, von welcher Gabe er sprach, aber der starre Blick der dunklen Augen, der mich bis auf den Grund der Seele durchdrang, hielt mich gefangen, mächtiger als jede Fessel. Die Augen wurden immer größer, und ich stürzte hinein wie in einen tiefen See, ufer-los.Aus unendlicher Ferne hörte ich wie das Flüstern des Herbstwinds in den welken Blättern, aber auch deutlich und eindringlich die Worte: »Erinnere dich, Armand. Lass dich fallen in den Strom der Zeit, der bedeutungslos ist. Eine Chimäre, geschaffen vom Bösen, um die Menschen nach Reichtum und Macht jagen zu lassen. Überwinde die Ketten deines
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