Im Schatten von Notre Dame
Ufer zu ziehen. Sie stocherten in dem Kessel herum wie Köche, die in einem riesigen Topf Suppe rühren. Ab und an hoben sie ein Stück von Manchot aus dem kochenden Öl, mal einen Fuß, dann seinen Arm oder auch den Kopf. Aber immer wieder versank der Verurteilte in der brodelnden Brühe, als wollten die Teufel, die in der flüssigen Hölle hausten, ihn nicht mehr her-geben.
Inzwischen war Michel Noiret auf die Idee verfallen, das Feuer zu löschen. Die Männer der Scharwache, die den Verurteilten zur Richtstätte geleitet hatten, bildeten eine Kette zu dem flachen Trog, in dem die feilgebotenen Schweine ihren Durst löschten, und reichten Wasser-eimer weiter, die Messire Noiret höchstselbst über dem Feuer entleer-te. Dichte Dampfschwaden hüllten den ganzen Richtplatz ein und verbargen das Geschehen vor unseren Augen.
Als sie sich allmählich verzogen, war das Feuer gelöscht. Und Torterues Männern war es gelungen, Manchot aus dem Kessel zu ziehen.
Oder vielmehr das, was von dem armen Kerl übrig war. Vor dem Kessel lag sein verrenkter Leichnam auf dem Boden, denn Leben konnte in dem Haufen zerkochten Fleisches nicht mehr sein. Überall löste es sich von den Knochen, ein paar Handvoll Fleisch mußten noch im Kessel schwimmen, eine Suppe des Todes. Was von Manchots Gesicht übrig war, konnte man kaum noch als solches bezeichnen. Dickblasige Haut über durchscheinendem Gebein, der Kopf ohne Haare, leere Augenhöhlen. Es erinnerte mich an Villon.
Messire Noiret, durchnäßt von Wasserdampf und seinem eigenen Schweiß, bemühte sich halbwegs erfolgreich um Fassung und um Aufmerksamkeit, als er verkündete, daß nun der zweite Teil des Urteils vollstreckt werde. Und als hätte Manchot noch nicht genug erlitten, baumelte sein zerschundener Leichnam schließlich am Galgen.
Bewegung kam in die Menge. Einige hatten genug gesehen und kehrten heim oder zu ihren Geschäften auf dem Markt zurück. Andere drängten aus den hinteren Reihen nach vorn, um den Gesottenen und Gehängten aus der Nähe zu betrachten. Die vom heißen Öl Bespritzten beklagten sich lauthals und erklärten, sie würden beim Profos Beschwerde einlegen. Die Frau mit dem verbrühten Gesicht ging, gestützt von einer Freundin, steif und starr davon. Ihr Gemahl hatte eine Schönheit geheiratet und mußte nun in das häßlichste Gesicht blicken, das Paris aufzuweisen gehabt hätte, wäre da nicht der Glöckner von Notre-Dame gewesen.
»Jetzt habe ich aber Hunger«, sagte Falcone und zog mich abermals mit sich. »Ich kenne ein gutes Gasthaus ganz in der Nähe. Kommt mit, Monsieur Armand, ich lade Euch ein.«
Die Hinrichtung hatte so viel Volk auf den Schweinemarkt gelockt, daß wir gerade noch einen freien Platz an einem kleinen Ecktisch fanden. Falcone bestellte zwei Terrinen Fleischbrühe, was mir gar nicht behagte. Das heiße Gebräu erinnerte mich an das Siedeöl, und als Falcone einen Weizenbrotkanten in die Brühe tauchte, sah ich Nicolas Manchot vor mir. Brotkrumen lösten sich von dem Kanten wie das Fleisch von Manchots Knochen. Ich rang mit dem flauen Gefühl in meinem Magen und ließ das Mahl wohlweislich unberührt.
»Was ist, habt Ihr keinen Hunger?« fragte Falcone, schaufelte sich mit dem Holzlöffel einen Fleischkloß in den Mund und zerkaute ihn unter lautem Schmatzen.
»Der ist mir gründlich vergangen.«
»Mitleid mit dem Schnitter von Notre-Dame?«
»Ihr sagtet doch, er sei unschuldig.«
»Aber als er zum Grand-Châtelet kam und sich stellte, brachte er das mit.« Der Kriminalleutnant legte einen Dolch mit blutbefleckter Klinge und einen Stapel Spielkarten auf den Tisch. Mit einer Handbewegung strich er die Karten auseinander. Alle zeigten die Stabzehn.
»Sieht aus wie ein sicherer Beweis, wie?«
»Fast schon zu sicher«, erwiderte ich und betrachtete den Dolch.
»Kaum zu glauben, daß sich der Mörder nicht die Mühe gemacht haben soll, seine Waffe vom Blut zu reinigen.«
»Ihr sagt es, Armand!«
»Und trotzdem wurde Manchot verurteilt?«
»Er hat gestanden.«
»Warum?«
»Weil er die Gewissensqual nicht länger ertrug und Vergebung für seine Sünden erlangen wollte.« Falcone lachte laut auf. »Das jedenfalls hat er als Grund genannt.«
»Und was, glaubt Ihr, hat ihn wirklich veranlasst, sich so grausam tö-
ten zu lassen?«
Falcone biss mit sichtlichem Appetit in das aufgeweichte Brot und antwortete kauend: »Seine Rechtschaffenheit und wohl auch Todesangst. Seit er sich stellte, ist seine Familie spurlos
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