Im Schatten von Notre Dame
Conciergerie herausfinden, bevor weitere Unschuldige sterben.«
»Wer sollte denn sterben?«
»Zum Beispiel die kleine Zigeunerin, die bei uns im Châtelet darbt.
La Esmeralda nennt man sie. Ihr müsstet von der Sache gehört haben.«
Das saß! Falls es mir gelang, nach außen hin Ruhe zu bewahren, dann nur mit größter Mühe. Innerlich kochte ich wie das todbringende Öl im Siedekessel. Daß Falcone la Esmeralda erwähnte, war wohl-bedacht.
»Diese Zigeunerin soll einen Mann erdolcht haben, einen Offizier, nicht wahr?« erkundigte ich mich möglichst unbefangen.
»Einen Hauptmann der königlichen Schützen, und zwar den, der den Überfall auf die Conciergerie vereitelt hat. Nun sagt selbst, mein kluger Monsieur Sauveur, kann das ein Zufall sein?«
»Ihr glaubt ja ohnehin nicht an Zufälle«, erwiderte ich und versuchte ein Grinsen. »Also geht Ihr wohl davon aus, daß man mit dem Hauptmann einen Zeugen beseitigen wollte.«
»Ja!«
»Und die Zigeunerin? Wieso glaubt Ihr an ihre Unschuld?«
»Weil ein Gassenjunge einen Zettel mit einer Mordnachricht zum Petit-Châtelet brachte, noch bevor der Mord verübt wurde. Und weil die alte Falourdel, in deren Kupplerhöhle die Tat geschah, etwas verschweigt. La Esmeralda sagte etwas von einem vermummten Mann, der den Dolch geführt haben soll. Die Falourdel behauptet, daß sie niemanden gesehen hat, und daß niemand an ihr vorbei ins Haus kommt.
Doch meine ich mich mit Menschen gut genug auszukennen, um in ihr eine Lügnerin zu sehen.«
»Dann übergebt sie doch Maître Torterue. Der wird die Wahrheit schon aus ihr herauspressen.«
»Unmöglich, gegen die Alte liegt nichts vor. Wenn nicht innerhalb weniger Tage ein Wunder geschieht, endet la Esmeralda ebenso am Strick wie Manchots kärgliche Überreste. Nächste Woche soll sie zu Gericht. Übrigens, ihrer wird sich Torterue bestimmt annehmen.«
»Sie … wird gefoltert?«
»Natürlich. Und sie wird gestehen. Was auch sonst? Ihre einzige Aussicht, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, besteht darin, daß Falourdel in der Verhandlung etwas anderes aussagt, und darauf kann die Zigeunerin nicht hoffen. Ob Falourdel aus Angst lügt oder für Geld, sie tut’s jedenfalls eisern.«
La Esmeralda auf der Folterbank und bald schon am Galgen! Vielleicht hätte mich diese Eröffnung endgültig in Verwirrung gestürzt und ich hätte mich verplappert, wäre nicht eine dickliche Frau mit einem Eimer an unseren Tisch getreten.
»Der junge Herr sieht nicht gut aus. Geht’s ihm schlecht? Dann hilft mein Öl ganz sicher.« Und schon tauchte sie einen Tuchfetzen in den Eimer und bestrich meine Stirn und meine Wangen mit warmem Öl.
»Das Siedeöl heilt jedes Übel, Euch wird’s gleich besser gehen. Macht einen Sol, Messire.«
Sie streckte ihre fettige Hand aus, aber ich starrte sie nur an und fragte langsam: »Das … Sie-de-öl?«
Falcone lachte und zeigte aus einem scheibenlosen Fenster. »Aber ge-wiß doch. Ist Euch nicht bekannt, Monsieur Armand, daß man Splittern vom Galgen, den Knochen und bestimmten Körperteilen Gehenkter wunderbare Kräfte zuschreibt? Dasselbe gilt fürs Siedeöl. Die Öl-verkäufer auf dem Schweinemarkt machen immer ein gutes Geschäft damit, und noch mehr zahlt es sich für den Foltermeister aus.«
Nun sah ich durch die Fensteröffnung eine lange Menschenschlange, die sich vor dem Kessel gebildet hatte. Männer, Frauen und Kinder lie-
ßen ihre Krüge, Schüsseln und Eimer von den Folterknechten mit dem Öl füllen, in dem Nicolas Manchot zu Tode gekommen war. Und jeder legte seinen Obolus in Torterues ausgestreckte Hand.
»Einen Sol, Monsieur«, drängte die Dicke. »Das Öl ist noch warm. Es hilft ganz bestimmt!«
Noch warm? Mir schien es eher, als würden meine Stirn und meine Wangen verbrennen! Ich dachte daran, daß in dem Eimer womöglich Stücke von Manchots Fleisch schwammen. Übelkeit stieg in mir hoch, ich sprang von meinem Schemel auf, stürzte zu dem Wasserfaß, in dem die Gäste ihre Hände säuberten, und tauchte meinen Kopf in das schmutzige, fettige Nass. Immer wieder rieb ich mit den Händen über mein Gesicht, aber das Siedeöl wollte sich nicht lösen. Das drük-kende Gefühl in meinem Magen wurde übermächtig, und ich erbrach mich in das Fass.
Kapitel 3
Die Kupplerhöhle
Das Haus der Kupplerin lag wie ein schlafendes Untier vor mir, still und düster. Obwohl die Sonne längst untergegangen war, hatte es die Augen geschlossen, leuchtete kein Fenster. Es war zu früh.
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