Im Schatten von Notre Dame
Erst nach dem süffigen Wein, der die Last des Tages vergessen machte, wandten sich Bürger und Scholaren den losen Weibern zu, wenn noch Geld übrig blieb. Ich stand an derselben Ecke wie an jenem Abend, als ich la Esmeralda und den Hauptmann das Haus hatte betreten sehen, und wol -
te herausfinden, weshalb die Falourdel log. Dann konnte ich Vil on oder den Zigeunerherzog hinzuziehen, um der Kupplerin einzuheizen.
Natürlich hätte ich Leutnant Falcone zur Entlastung der Esmeralda die Wahrheit erzählen können. Aber wer hätte mir diese aberwitzige Geschichte geglaubt? Zudem konnte ich nichts beweisen. Der ehrenwerte Dom Frollo, der sogar mit dem König und dessen Leibarzt verkehrte, der bei Gericht Freunde wie Godin und Charmolue hatte, ein gemeiner Mörder? Man hätte mich ausgelacht.
Im Rückblick muß ich gestehen, daß ich auch aus Schuldbewusst-sein versuchte, la Esmeralda allein zu helfen. Hätte ich den Mord an Hauptmann Phoebus verhindern können, hätte ich nicht einfach nur zugesehen?
Es bedrückte mich, für das elende Schicksal der Zigeunerin mitver-antwortlich zu sein. Mein Gang zur Saint-Michel-Brücke war die Wie-dergutmachung, die ich la Esmeralda zu schulden glaubte.
Und ich hoffte, dadurch in ihrer Gunst und in ihrer Achtung zu steigen.
Warum ich das wollte? Nun, die Zigeunerin war eine betörende Frau.
Colette war zwar wieder auf den Beinen, und ich dankte dem Herrn dafür, aber sie verhielt sich mir gegenüber seltsam abweisend, nicht nur gleichgültig, sondern beinahe feindselig. Ich hatte keine Erklärung dafür und würde auch keine finden, solange sie sich in Villons unterirdischem Versteck verbarg, wohin sie nach ihrer Genesung zurückgekehrt war.
Ich faßte mir ein Herz, ging zu der Kupplerhöhle und pochte an die Tür, die von der Feuchtigkeit der nahen Seine faulig geworden war.
Nichts regte sich. Aber Falourdel oder jemand anderes mußte da sein.
Dünne Lichtfinger stießen durch die Türritzen. Und ich roch den Rauch eines Feuers. Also klopfte ich noch einmal, so heftig, daß die Tür erbebte.
»Lasst mein Haus stehen, verflucht!« krächzte die Alte. »Ich komm ja schon, ich komm ja schon.« Und sie schlurfte herbei, entriegelte die Tür, zog sie einen kleinen Spalt weit auf und leuchtete mit einer Lampe in mein Gesicht, blendete mich. »Was wollt Ihr, Monsieur?« Fauliger Höllenodem schlug mir entgegen, daß ich mich am liebsten abgewandt hätte.
Mir wurde fast so übel wie am Mittag, als mich die Dicke mit dem Siedeöl eingeschmiert und auch noch gewagt hatte, dafür Geld zu verlangen. Falcone hatte sie bezahlt, und ich hielt es für möglich, daß er sie sogar bestellt hatte.
»Einen guten Schluck könnt Ihr mir anbieten, natürlich gegen gute Bezahlung«, sagte ich.
Die von unzähligen Runzeln umringten Augen blickten mich miß-
trauisch an. »Trinken könnt Ihr hier, na sicher, aber das ist nicht das Geschäft, von dem ich lebe.«
»Weiß ich doch, Madame Falourdel. Mein Schatz kommt später, ich bin früh dran.«
»Kann man sagen, kann man sagen«, kicherte die Alte und zog die Tür weiter auf. »Na, dann kommt rein, Monsieur, und lasst Euch bewirten. Geld habt Ihr doch, sagtet Ihr?« Und wie von selbst reckte sich mir eine Klaue entgegen, in die ich einen Sol drückte.
Das Innere der Kupplerhöhle war ebenso schäbig und herunterge-kommen wie die Fassade. Die stockfleckigen Wände waren seit Ewig-keiten nicht mehr getüncht worden, die Deckenbalken schwarz wie eine wolkenverhangene Nacht, der Kamin, in dem ein bescheidenes Feuer flackerte, fast gänzlich aus den Fugen gegangen. In allen Ek-ken hingen Spinnweben, als warteten ihre fleißigen Erschaffer nur auf das baldige Ableben der Kupplerin, um dann ihr Quartier vollends zu übernehmen. Es roch nach Unrat und Schimmel, nach Tod und Verfall. Das einzig Lebendige war ein struppiger, schmutziger Knabe, der auf einer Truhe saß und mit den nackten Füßen gegen das Holz trom-melte, wobei er eine langsame Melodie summte und den Kopf hin und her wiegte.
»Wein für den ehrenwerten Herrn, Faisan, na los!«
Falourdel scheuchte den Jungen von der Truhe und rückte mir einen klapprigen Stuhl zurecht. Die dürre, verschrumpelte Frau sah aus wie ein unter der Last des Alters gebeugtes I, das eines nicht mehr fernen Tages vollends zusammenbrechen würde.
»Bring nicht nur für mich Wein, auch für Madame Falourdel!« rief ich dem Jungen zu, der hinter ein paar auf Fässer gelegten Brettern verschwand, der Theke.
Weitere Kostenlose Bücher