Im Schatten von Notre Dame
verschwunden. Die Manchots nagten seit seinem verhängnisvollen Unfall am Hunger-tuch. Ich nehme an, jetzt leben sie in irgendeinem abgeschiedenen Ort auf dem Land und werden gut versorgt.«
»Von wem?«
»Von denen, die nicht nur Manchot, sondern auch seine Frau und die Kinder grausam getötet hätten, hätte er sich nicht als Schnitter von Notre-Dame ausgegeben. Manchot konnte nur zwischen seinem Tod und dem seiner ganzen Familie wählen. Er hat sich für das kleinere Übel entschieden und damit den Seinen das Überleben gesichert. Ein guter Handel, findet Ihr nicht?«
»Keineswegs«, sagte ich leise und schluckte krampfhaft; die zum Frühmahl genossene Mehlsuppe wollte in mir hochsteigen. »Der Handel wurde ihm aufgezwungen, nicht vorgeschlagen. Das ist nicht die Art Barmherzigkeit, die in der Heiligen Schrift verkündet wird.«
»Die Kipper und Wipper leben nicht nach der Heiligen Schrift. Sie wollten mir den vermeintlichen Schnitter liefern, damit ich meine Untersuchungen einstelle.«
Ich überlegte und schüttelte den Kopf. »Das ist doch widersprüchlich. Erst ziehen die Falschmünzer Eure Aufmerksamkeit auf sich, indem sie die Schwester und den Mesner auf Aufsehen erregende Art tö-
ten, und dann wollen sie alles vertuschen?«
»Die Morde im Hôtel-Dieu und in Notre-Dame sollten nicht mich beeindrucken, sondern die eigenen Verbündeten. Die Falschmünzer wollten den Ihren zeigen, daß ein loses Mundwerk tödlich ist. Sie haben wohl nicht damit gerechnet, daß ich der Sache nach so vielen Wochen noch immer nachgehe. Manchots Geständnis, bei dem er übrigens keinen seiner angeblichen Komplizen verraten hat, soll diese Untersuchungen beenden.« Falcone beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. »Seltsame Dinge geschehen in Paris. Ich habe Euch doch von Maître Cenaine erzählt, dem verschwundenen Münzverwalter.«
»Ich erinnere mich«, sagte ich möglichst ruhig und verbarg die plötzlich feuchten Hände in meinem Schoß.
»Vor einigen Wochen ereignete sich ein Überfall auf die Conciergerie, doch die königlichen Schützen haben die Eindringlinge in die Flucht geschlagen. Kurz darauf verließen mehrere Kutschen den Justizpalast. Es heißt, es sei ein Verschleierungsmanöver gewesen. In Wahrheit habe nur in einer Kutsche jemand gesessen, der Mann, den man vergeblich aus dem Kerker zu befreien versuchte. Und dieser Mann soll Cenaine gewesen sein.«
Ich spielte den Überraschten und fragte: »Wisst Ihr das nicht genau?
Ich meine, die Verwaltung der Conciergerie muß Euch doch sagen können, wer der Gefangene war.«
»Ganz im Gegenteil, dort weiß man von nichts. Weder von einem verschwundenen Gefangenen hat man gehört noch von geheimnisvollen Kutschen. Der Überfall, heißt es, habe wohl den Raub des Staatsschatzes zum Ziel gehabt. Wenn ich mehr herauszufinden versuche, stoße ich auf Mauern des Schweigens. Einflussreiche Herren sitzen in der Verwaltung der Conciergerie.«
»Auch der Leibarzt unseres guten Königs«, brummte ich.
»Ach, das wisst Ihr?«
Falcones Kopf ruckte noch weiter vor, so daß seine Nase fast an die meine stieß. Ich roch seinen Atem, und der scharfe Geruch der Fleischbrühe verstärkte meine Übelkeit. Ich erinnerte mich an den Besuch bei der Dicken Margot, als der Leutnant mich auch seinen Gast genannt und in Wahrheit verhört hatte. So war es wieder, das wußte ich jetzt.
Daß ich zu Manchots Hinrichtung geladen worden war, die Fleischbrühe und das Gespräch, in das Falcone mich verwickelte – alles diente nur dem Zweck, mich zu verwirren. Und in der Verwirrung sollte ich mich verraten. Was wußte und was ahnte er?
»Ich habe mich ein wenig nach Messire Coictier umgehört«, sagte ich im unverfänglichen Ton.
»Weshalb?«
»Weil ich ihm begegnet bin.«
»Wo?«
»In Notre-Dame, wo er Dom Frollo besuchte. Ist es nicht natürlich, daß man mehr über einen so wichtigen Mann zu erfahren wünscht, wenn man seine Bekanntschaft macht?«
Falcone überhörte meine Frage zugunsten einer eigenen: »Was wollte Coictier bei Frollo?«
»Das wagte ich nicht zu fragen. Da sie in Frollos Zelle auf dem Nordturm gingen, nehme ich an, daß Coictier weniger an geistlichem Bei-stand als an hermetischem Wissen gelegen war. König Ludwigs Leibarzt scheint Euch sehr zu beschäftigen. Hat das einen besonderen Grund?«
»Alles kann wichtig sein für einen Mann mit meiner Aufgabe, das sagte ich Euch doch schon. Ich muß mehr über den Vorfall in der
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