Im Schatten von Notre Dame
»Setzt Euch zu mir, Madame, dann können wir uns durch ein wenig Plauderei die Zeit vertreiben.«
Sie setzte sich und grinste mich mit fauligen, lückenhaften Zahnstum-meln an. So schien es mir, bis ich im Licht der Lampe, die sie auf den Tisch gestellt hatte, die Wahrheit erkannte. Das Alter hatte ihre Haut ausgetrocknet, dabei waren die Lippen bis hinter das Zahnfleisch eingefallen und hatten die traurigen Reste ihre Gebisses auf ewig entblößt.
Was auch immer geschah, sie würde lächeln bis in den Tod.
Faisan brachte zwei schmutzige Tonbecher mit aufgeschlagenen Rändern und einen kaum besser erhaltenen Krug, dem ein durchdringender süßlichsaurer Duft entströmte. Meine Vermutung, daß der Wein nicht mehr weit davon entfernt war, Essig zu werden, erwies sich als richtig, als ich vorsichtig an dem klebrigen Becher nippte.
Wieder hatte sich ein Anflug von Misstrauen in die Augen der Wirtin geschlichen. Hatte ich zuwenig von dem Gesöff getrunken? Sie hatte ihren Becher mit einem Zug halb geleert und stieß eine ganze Reihe von übel riechenden Rülpsern aus. »Wart Ihr schon mal bei mir zu Gast, Messire?«
»Euer Haus betrat ich heute zum ersten Mal«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Aber ich hörte schon viel von Euch. Nachdem die schreckliche Tat bei Euch verübt wurde, ist Madame Falourdel in aller Munde.«
Sie zwinkerte, erbebte, und ihr weißer Bart zitterte mit ihr. »Wovon sprecht Ihr, Messire?«
»Von dem Hauptmann, den man bei Euch niederstach. Man sagt, es sei in einem Eurer Gastzimmer geschehen. Stimmt das?«
»Ja, so war es. Aber ich versteh nicht, was Euch an der Geschichte …«
»Oh, es würde mir besondere Freude bereiten, mit meinem Schatz gerade in das bewusste Zimmer zu gehen. Begreift Ihr, Madame? Ich würde dafür auch den doppelten Preis bezahlen.«
»Den doppelten Preis, sagt Ihr?« Sie nickte zufrieden. Das war die Sprache, die sie verstand.
»Könnt Ihr mir das Zimmer schon mal zeigen? Ich werde es sicher anregend finden.«
»Ein Zimmer kostet eine Goldkrone.«
Ich legte zwei Kronen auf den Tisch, und einen Herzschlag später waren sie in Falourdels gichtigen Händen verschwunden.
»Na, dann kommt mal mit, Messire! Ich werd Euch den Verschlag zeigen, in dem Ihr Euer Täubchen füttern könnt.«
Sie nahm die rostige Lampe und schlurfte zu einer engen Stiege, mehr Leiter als Treppe, die sie trotz ihres Alters mit bewundernswer-tem Geschick erklomm. Ich folgte ihr ins düstere Obergeschoß, wo sie die Tür zu einer Kammer aufstieß. Im zitternden Lampenlicht erkannte ich den Ort, an dem Hauptmann Phoebus die Lust gesucht und den Tod gefunden hatte. Da stand die Truhe, auf der er mit la Esmeralda gesessen, da das Bett, auf dem er ihr warmes, süßes Fleisch genossen hatte. Viel zu kurz für ihn – und auch für die Zigeunerin?
Bei dem Gedanken an die beiden Leiber auf dem Bett packte mich Eifersucht. Ich wandte mich dem von Sprüngen durchzogenen Fenster zu, durch das man undeutlich den dunklen Fluss und die Brücke mit den nur spärlich erleuchteten Häuserreihen erkennen konnte. Dahinter ver-schwammen Häuser und Türme und Mauern in nächtlicher Finsternis und dem Nebel über der Seine, und jeder Schatten war ein Geheimnis.
Bei Tag war Paris ein Labyrinth, bei Nacht ein Mysterium.
»Wenn Messire hier auf seinen Schatz warten möchte, lass ich Euch gern den Wein bringen.«
»Lasst den Wein bringen und schenkt mir noch ein Weilchen Eure bezaubernde Gesellschaft, Madame. Ich möchte gern mehr hören über das, was sich hier ereignet hat.« Ich versuchte, eine genießerische, von Vorfreude erfüllte Miene aufzusetzen.
Die Alte nickte und stellte die Lampe auf die Truhe. »Ich hol den Wein, Messire.«
Kurz darauf kehrte sie mit dem Krug und den Bechern zurück. Wohl oder übel trank ich von dem ekligen Gesöff, das die Falourdel mit sichtlichem Wohlbehagen durch ihren dürren, faltigen Hals gluckern ließ.
Wir setzten uns aufs Bett, und ich betete inständig, die Vettel möge nicht auf geile Gedanken kommen. Die Vorstellung von ihrem nackten, ledrigen Körper war geeignet, den Weinessig auf demselben Weg, den er in meinen Magen genommen hatte, wieder zurückzubefördern.
Der faulige Geruch, den die Schlunze verströmte, war schon schwer genug zu ertragen.
»Hier hat Gevatter Tod also zugeschlagen«, sagte ich, um das Gespräch in Gang zu bringen.
»Wie Ihr sehen könnt, Messire.«
Falourdel zeigte mit einem knochigen Finger auf einen dunklen, mehr als handgroßen
Weitere Kostenlose Bücher