Im Schatten von Notre Dame
auch freiwillig gefolgt wäre.
Djali bewegte sich, als befinde sie sich auf dem Weg zu einem neuen Auftritt. Wie zum Gruß blickte sie nach rechts und links und reckte der Menge ihren weißen Hals mit dem Lederbeutel entgegen. Darin trug sie die auf Buchsbaumtäfelchen gemalten Buchstaben, mit denen sie auf la Esmeraldas geheime Zeichen hin Worte bilden konnte. Eine Kunst, die lange der Belustigung des Volkes gedient hatte und demselben Volk jetzt als Beweis dämonischer Macht galt.
La Esmeralda hockte mit rücklings gefesselten Armen auf dem Karren. Sie trug ein härenes weißes Büßerhemd, sonst nichts. Das schwarze Haar glänzte in der Sonne wie Rabengefieder und fiel in langen Strähnen auf die nackten Schultern und die halbnackte Brust. Erst im Schatten des Galgens sollte die Sünderin ihre Haarpracht einbüßen. Um den Hals trug sie bereits den Hanfstrick, der ihre zarte Haut wundreiben mußte. Die nackten Beine unter sich gezogen, kauerte sie mit gesenktem Blick auf der Pritsche, ein Bild der Scham und der Verzagtheit. Bei diesem Anblick verstummten manche der groben, unzüchtigen Rufe aus der Menge, an die Stelle von Hohn trat Mitleid.
Ich beugte mich weit über die Brüstung, als könne ich so der Verurteilten näher sein. Und doch fürchtete ich, sie könne plötzlich herauf-schauen und mich erkennen. Wenngleich sie von meiner Anwesenheit bei jenem verhängnisvollen Treffen mit Hauptmann Phoebus kaum wissen konnte, ängstigte ich mich vor der stummen Frage: Warum, Armand, schweigt Ihr? Weshalb steht Ihr mir nicht bei?
Der Umzug hielt vor dem Hauptportal an, das, wie die beiden anderen Portale auch, verschlossen war. Die Begleitung nahm zu beiden Seiten des Karrens Aufstellung, und die Menge verstummte in gespannter Erwartung. Es war so still, daß ich deutlich das Knarren von Holz und Eisen hörte, als die beiden Flügel des Hauptportals auf-schwangen. Feierlicher Psalmengesang strömte aus der Kirche, und in den Chor mischte sich eine einzelne Stimme mit den düsteren Meßgebeten des Offertoriums.
Während la Esmeralda notgedrungen ihrer Totenmesse lauschte, stieg ein Henkersknecht zu ihr auf den Karren, befreite sie von den Fesseln und half ihr von der Pritsche, bevor er auch Djali losband. Als freie Wesen sollten die Frau und ihre Ziege Buße tun, bevor sie wieder Gefangene des Henkers wurden.
Der Gesang verstummte, als ein großes goldenes Kreuz aus dem Hauptportal schwebte. So sah ich es auf den ersten Blick. Dann erst erkannte ich, daß ein Priester im Messgewand das Kreuz trug. Hinter ihm schritt die übrige Bußprozession aus der Kathedrale, angeführt von Dom Claude Frollo. Fast hätte ich ihn, der sonst düstere Farben trug, in seiner silbern schimmernden Dalmatika nicht erkannt. Mir erschien es als bitterer Hohn, daß der Mann, durch den la Esmeralda unter Mordverdacht geraten war – der wahre Mörder! –, ihr die Buße abnehmen sollte. Nicht nur die Menschen, auch Gott schien die Zigeunerin verlassen zu haben.
Sah sie in ihm den wahren Schuldigen, oder war damals in der Kupplerhöhle alles viel zu schnell gegangen? Jedenfalls blickte sie ihn voller Abscheu an, und ich glaubte, Furcht in ihren schwarzumrandeten Augen zu bemerken. Frollos kalter Blick war die meiste Zeit auf sie gerichtet, wanderte aber hin und wieder zu Charmolue. Einem Unwissenden mochten die sich kreuzenden Blicke des Archidiakons und des Prokurators nichts sagen, ich aber wußte, daß hier Verschwörer stumme Zwiesprache hielten. Frollo hatte den Hauptmann aus dem Weg ge-räumt, und Charmolue hatte vor Gericht dafür gesorgt, daß man alle Schuld der Esmeralda aufbürdete.
Ein Priester drückte ihr eine schwere Kerze aus gelbem Wachs in die Hände, und der Kanzlist leierte den Text der Abbitte herunter. Die Zigeunerin wirkte entrückt, schien mit dieser Welt bereits abgeschlossen zu haben. Wäre sie nicht von einem Priester angestoßen worden, hätte sie ihr »Amen« verpasst. Dann aber erschauerte sie, als Frollo die Hand nach ihr ausstreckte und mit Grabesstimme sprach: »I nunc, anima anceps, et sit tibi Deus misericors! – Gehe nun hin, missliche Seele, und Gott sei dir gnädig!«
Eine gebieterische Handbewegung des Archidiakons veranlasste die Menge, auf die Knie zu fallen und das ›Kyrie Eleison‹ der Priester als vielfaches Echo zu wiederholen. »Amen«, sagte Claude Frollo und führte, nach einem letzten langen Blick auf die Verdammte, die Prozession der Diakone und Priester zurück in die Kathedrale.
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