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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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für la Esmeralda. Unter der Folter hatte sie alles, was man ihr vorwarf, gestanden: Zauberei, Hexerei, Teufelsanbetung, Unzucht mit Tieren und Dämonen – sogar Mord an Hauptmann Phoebus de Châ-
    teaupers. Selbst mit ihrer Ziege Djali, die natürlich zu einer Inkarna-tion des Teufels erklärt wurde, sollte sie verkehrt haben, weshalb man die Ziege auch gleich zum Tode verurteilte. Was übrigens keine Verwunderung auslöste, hatte man in den vergangenen Jahren doch auch einen Stein und einen Holzbalken gehenkt, weil sie, als eine Brücke zusammenbrach, hohe Kleriker erschlagen hatten.
    In immer kürzeren Abständen blickte ich gen Himmel. Die Sonne kletterte höher und höher, und immer näher rückte la Esmeraldas letzte Stunde. Die Straßen und Gassen rund um den Domplatz füllten sich mit Gelächter, Geschrei und Gesang, mit Musik und Gauklern, mit Männern und Frauen. Aus meiner Warte waren sie alle nur bunte Flecke, Puppen, die einen sinnlosen Tanz aufführten. Sie begafften den Tod eines Menschen, um sich am Leben zu berauschen. Es schien mir das größte Verhängnis des Menschen zu sein, daß er stets dann aufleb-te, wenn es bei seinen Brüdern und Schwestern ans Sterben ging. Be-kriegten die Menschen einander, um durch die Opfer auf der Gegen-seite den Tod zu beschwichtigen? Wurde deshalb geschlachtet, gemor-det und gehenkt? War der General nicht besser als der Galgenstrick?
    War der Menschen Furcht vor dem Tod ihre Ananke?
    Sogar die niedrigeren Dächer wurden von der lüsternen Menge in Beschlag genommen. In seltsamem Kontrast dazu lag der men-schenleere Domplatz. Längst wäre er von der wogenden Masse überspült worden, hätte nicht entlang der Absperrmauer eine dichte Kette von Wachen gestanden, mit Piken bewaffnete Sergeanten der Elfmalzwanziger und Arkebusiere mit geladenen Büchsen. Der Eingang zum Domplatz wurde von Hellebardieren mit dem bischöflichen Wappen abgeriegelt.
    Die Glocken der Kathedrale schlugen die Mittagsstunde, und ein freudiger Aufschrei ging durch die Menge. Meine Hände umkrampf-ten das Geländer, als ich im Westen zwischen Dächern und Giebeln den Umzug erblickte, der langsam vom Justizpalast heranrückte. Dort, in der Conciergerie, hatte man la Esmeralda von ihrer Verurteilung bis zum Tag ihrer Hinrichtung gefangen gehalten.
    Und niemand half ihr. Nicht ihr Vater und nicht Villon. Nachdem wir in den Kerker des Justizpalastes eingedrungen waren, hatte man die Conciergerie zu einer wahren Festung ausgebaut, kaum weniger streng bewacht als das Refugium der Großen Spinne im Wald von Tours. Ein zweiter Befreiungsversuch hätte unweigerlich zu gewaltigen Schlachten geführt.
    Auch die böse Kupplerin aus dem Quartier Latin, die Falourdel, stand der Zigeunerin nicht bei. Im Gegenteil, die Alte hatte la Esmeralda nur noch tiefer ins Verhängnis gestürzt, indem sie vor Gericht etwas von den unheimlichen Zauberkräften der Ägypterin schwafel-te. Angeblich hatte la Esmeralda den Kupplerlohn des Phoebus in ein dürres Birkenblatt verwandelt. Da die Birke als Abwehrmittel gegen Hexen allgemein bekannt ist, muß eine Hexe, die eine Birke verdorren lassen kann, ganz besonders verworfen sein. Welch schlagender Beweis für die Schuld der Esmeralda!
    Aber durfte ich, der ich selbst nichts unternahm, um der Verurteilten beizustehen, darüber klagen? Ich hätte ihre Unschuld bezeugen können und hatte es doch nicht gewagt, aus Angst, selbst als Ketzerfreund verurteilt zu werden.
    Der von Reitern und Fußvolk begleitete Henkerskarren rollte durch die Rue Saint-Pierre-aux-Boeufs auf den Domplatz. Da la Esmeralda angeblich nicht nur gegen die weltlichen Gesetze, sondern als Hexe auch gegen die der Kirche verstoßen hatte, mußte sie im Angesicht von Notre-Dame büßen, bevor es ans Sterben ging. Vor dem Portal der Kathedrale sollte sie öffentlich Abbitte leisten, bevor man sie zum Galgen auf dem Grève-Platz brachte.
    Die berittenen Wachen bahnten dem Henkerskarren mit Peitschen- und Stockhieben einen Weg. An der Spitze des Zugs ritt Maître Jacques Charmolue in seiner Funktion als königlicher Ankläger beim Kirchengericht.
    Wie die anderen Gerichtsbeamten war er ganz in Schwarz gekleidet. Zu meiner Erleichterung konnte ich Gil es Godin nirgends entdecken.
    Hinter dem Karren trottete eine muntere Djali einher, mit einem Strick, den man durch ihre goldene Halskette gezogen und am Wagen befestigt hatte, bis zum Tod an ihre Herrin gebunden. Doch ich hatte den Eindruck, daß die Ziege der Frau

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