Im Schatten von Notre Dame
Als er unter dem schattigen Torbogen verschwand, war mir, als fiele ein Frö-
steln von mir ab, das mich bei seinem Erscheinen ergriffen hatte. Als hätte die Sonne angesichts des Archidiakons ihre wärmende Kraft verloren.
Das Volk erhob sich, und die Andacht verwandelte sich sogleich in lebhaftes Gebrabbel. Vereinzelt wurde Gelächter laut. Dem Herrgott war Genüge getan, nun wollte die Menge ihr Schauspiel haben: den Tod.
Charmolue gab zwei gelbgewandeten Henkersknechten ein Zeichen, und sie traten auf die Zigeunerin zu, um ihr die Hände wieder auf den Rücken zu binden. Die Bußkerze hatte einer der Priester mit in die Kirche genommen.
Als la Esmeralda mit Hilfe der Henkersknechte auf den Wagen steigen sollte, trat ein, was ich befürchtet hatte. Sie ließ ihren Blick an der Fassade der Kathedrale nach oben wandern und schrie mit geweiteten Augen: »Helft mir doch! Rettet mich!«
Das Blut schoß mir in den Kopf, durchlief ihn in heißen Wellen. Am liebsten wäre ich zurückgewichen, um dem flehenden Blick zu entgehen, doch ich konnte mich nicht vom Anblick der todgeweihten Schö-
nen lösen. Nie mehr würde ich in ihr Antlitz schauen, das selbst in der Todesangst noch verführerisch wirkte.
Sie wiederholte ihren Hilferuf, und mir zerriss es das Herz. Da unten standen Dutzende von Bewaffneten, deren Klingen mich zerfleischt, deren Bleikugeln mich zerfetzt hätten, hätte ich mich schützend vor la Esmeralda gestellt. Und dennoch – wäre es nicht ein ehrenvoller Tod gewesen?
Während ich noch mit mir rang, gewahrte ich eine Bewegung an der Fassade von Notre-Dame. Eine der Figuren aus der Königsgalerie schien, zu plötzlichem Leben erwacht, nach unten zu schweben. Rühr-te das Schicksal der Unglücklichen selbst toten Stein?
Da erkannte ich den Buckligen, Quasimodo! Er mußte sich schon die ganze Zeit über, fast direkt unter mir, auf der Königsgalerie aufgehalten haben. Von dort hatte er ein langes Seil auf den Domplatz hin-untergelassen, an dem er jetzt, das Tau mit Händen, Knien und Füßen umfassend, behende hinabglitt wie ein Gaukler, der mit dem Kunststück von Markt zu Markt zog.
Der Blick der Verurteilten folgte seinen schnellen Bewegungen, und ich fragte mich, wem ihr Hilferuf gegolten hatte. Ich empfand Scham und Eifersucht, weil der Glöckner wagte, wovor ich zurückgeschreckt war.
Mit einer Gewandtheit, die seinem verwachsenen Leib Hohn sprach, kam er am Boden auf, lief zu dem Karren und streckte die Henkersknechte mit zwei Faustschlägen nieder. Er packte die Zigeunerin und hob sie hoch, als sei sie eine Strohpuppe. Und schon sprang er zur Kathedrale, vorbei an den vor Überraschung erstarrten Hellebardieren des Bischofs, und verschwand mit seiner Beute im Hauptportal, das seit der Bußprozession offen stand. Ich konnte die beiden nicht mehr sehen, hörte aber Quasimodos kehlige Stimme immer wieder dasselbe Wort ausstoßen: »Asyl! Asyl! Asyl!«
Die Menge wiederholte das Wort weitaus ergriffener als kurz zuvor das ›Kyrie Eleison‹. Sie verlangte nicht mehr nach dem Tod der Esmeralda. Asyl! Das verhieß ein größeres Schauspiel, eins, das sich über Tage oder Wochen hinziehen mochte.
Wie alle Kirchen und manch andere Orte genoß auch Notre-Dame das Recht, eine Freistatt zu sein. Wer hierher floh, hatte sich allein vor Gott zu verantworten. Die Schergen weltlicher Gerichtsbarkeit durften ihn nicht behelligen, solange er sich innerhalb der geweihten Mauern aufhielt. Verließ er die Freistatt aber, schlug das Recht der Menschen mit aller Strenge zu.
Auf dem Domplatz entstand ein Tumult. Nur mit Mühe konnten die Bewaffneten die begeisterte Masse zurückhalten. Männer und Weiber drängten sich vor, jubelten Quasimodo zu und feierten ihn als Helden dieses Schauspiels. Als der Applaus anschwol , konnte ich nur mutmaßen, daß der Glöckner unter mir auf der Königsgalerie stand und sich zeigte.
Und dann – während unten noch Jacques Charmolue, die Gerichtsbeamten und die Offiziere der Wachen beratschlagten – erschienen Quasimodo und la Esmeralda bei mir auf der Turmgalerie. Als der Bucklige mich erblickte, funkelte sein Zyklopenauge mich feindselig an. Verübelte er mir, daß ich der Zigeunerin nicht zu Hilfe geeilt war?
Oder erachtete er ganz einfach jeden anderen als Bedrohung für die zum Tode Verurteilte? Jedenfalls hielt ich es für angezeigt, vor dem Glöckner zurückzuweichen.
Er trat an die Brüstung und hob la Esmeralda über sein strubbeliges Haupt, brüllte lauthals
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