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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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konnte.
    Er schien mich nicht zu bemerken. Seine Welt bestand nur aus Marie und ihm, aus den mächtigen Glockentönen, die selbst seine toten Ohren erreichen mußten, aus den Schwingungen, die er mit jeder Faser aufnahm. Hätte er es vermocht, wäre er wohl mit der Glocke verschmolzen wie die unglücklichen Gauner mit dem zerflossenen Blei.
    Es wäre für ihn das größte Glück gewesen.
    Die Handflächen gegen die Ohren gepresst, stand ich im Glockenstuhl und verfolgte das Schauspiel ungläubig. Hatte Quasimodo den Verstand verloren, daß er die Freuden seiner zitternden, stöhnenden Braut genoß – der einzigen, die sich ihm hemmungslos hingab –, während Sita da draußen am Galgen hing? Erst allmählich begriff ich, daß dies seine Art des Abschiednehmens war: Sitas Totengeläut.
    Ich verließ die Glockenstube, bevor meine Trommelfelle platzten wie die des Glöckners. Auch draußen auf der Plattform war das Läuten noch laut genug. Ich hielt mein Gesicht in den Wind, der hier oben selbst dann zu spüren war, wenn die Luft unten in den engen Gassen stand. Doch statt der erhofften Erfrischung spürte ich Ekel, der Wind trug den Aasgeruch zu mir. Die Toten verfolgten mich.
    Eilig floh ich in den Nordturm, zu Dom Frollos Hexenküche. Die Tür war offen wie in der Nacht. Wozu sie noch verschließen, wenn das Geheimnis gelüftet war? Außerdem glaubte ich nicht, daß Claude Frollo hierher zurückgekehrt war. Er mußte mit Quasimodos Vergeltung für Sitas Entführung rechnen – und für ihren Tod.
    Zögernd betrat ich den einst geheimnisvollen, jetzt entweihten Ort.
    Das Durcheinander war weitaus größer als in der Nacht. Gläser und Krüge waren zerschlagen. Flüssigkeiten in allen Farben waren ausgelaufen, erfüllten den Raum mit ihren mannigfachen Dämpfen, fraßen sich in Holz und Stein. Hier hatte ein Suchender gewütet oder ein To-bender. Vielleicht ein Suchender, der zu toben begann, weil er das Gesuchte nicht fand.
    Aber wenn Tristan l’Hermite hinter Dom Frollos Geheimnis her war, konnte er unmöglich der Großmeister sein. Oder spielte Tristan den Suchenden nur, um König Ludwig zu täuschen? Hatte er hier getobt, um eine Spur zu verwischen? Eins fiel mir auf: Sämtliche Bücher waren aus der Zelle verschwunden.
    Schon wollte ich den verwüsteten Ort verlassen, da bemerkte ich einen griechischen Schriftzug, der tief in eine Mauer geritzt war: ΑΝΑΓΚΗ.
    Ananke – Verhängnis!
    Es ließ mich nicht los, wollte mich verspotten. Hatte Frollo die Buchstaben in stiller Verzweiflung eingeritzt, oder waren sie ein Hinweis?
    Was auch immer, mir konnte es nicht mehr helfen.
    In mir wuchs die Gewissheit, daß meine Mission in Notre-Dame er-füllt war. Hier gab es kein Geheimnis mehr für mich zu ergründen, und ich verspürte kein Verlangen, noch länger für Dom Frollo als Kopist zu arbeiten.
    Als ich meine Zelle betrat, um mein Bündel zu schnüren, fand ich ein ähnliches Durcheinander vor wie in Frollos Hexenküche. Tisch und Stühle waren umgestürzt, die Matratze zerschnitten, das Stroh auf dem Boden verstreut. Und die Bücher fehlten: Gringoires Kometenbuch, meine Abschrift und das Büchlein mit meinen Anmerkungen.
    Hatte Frollo die Sachen geholt oder Tristan l’Hermite?
    Wer immer es gewesen war, mein Geheimversteck im Bettkasten hatte er nicht entdeckt. Ich packte meine Aufzeichnungen und Avrillots geringelten Drachen zu meinen wenigen Habseligkeiten. Nicht, daß mir an der Holzfigur gelegen war, aber wenn ihr eine Bedeutung zukam, durfte ich sie nicht zurücklassen. Ich wollte sie Villon übergeben, sollte er sich weiter damit herumschlagen.
    Marie sang nicht länger. Quasimodo hockte zwischen den Türmen auf den Resten des Steinhaufens, den er zur Beschießung der Gaunerarmee errichtet hatte. Den Kopf in die Hände gestützt, starrte er mit finsterem Blick über die Dächer, vielleicht zum Grève-Platz, reglos wie die Steindämonen, denen er in seiner eigentümlichen Hässlichkeit glich. Es sah aus, als halte er einen stummen Trauergottesdienst.
    Weil ich seine Andacht nicht stören wollte, setzte ich mich einfach neben ihn und sann über die Launen des Schicksals nach, das zwei Brüder, die nichts voneinander wußten, in solch einer Stunde zusammenführte. Irgendwann bewegte sich sein Kopf, starrte sein Auge mich an, fragte er: »Was wollt Ihr von mir?«
    »Ich will dich mitnehmen.«
    »Mich?« Er grunzte etwas, das einem ungläubigen Lachen nahe kam.
    »Niemand will mich.«
    »Doch, Quasimodo,

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