Im Schatten von Notre Dame
ich.«
»Warum?«
»Weil wir Brüder sind.«
Er schüttelte sein schweres Haupt, »ich verstehe Euch nicht.«
In vielen, ob seiner Taubheit mühsamen Worten erklärte ich es ihm, erzählte ich von Villon und der eingebrannten Muschel, die ich in der Nacht bei ihm gesehen hatte. Schließlich ließ ich meine Hose herunter und zeigte ihm mein Brandmal.
»Wir sind wirklich Brüder?«
Er fragte so ungläubig, wie die Sache an sich unglaubwürdig war. Ich konnte seine Zweifel nur zu gut verstehen, aber in Paris hatte ich gelernt, das Unglaubliche als alltäglich hinzunehmen.
»Das sind wir. Und wenn du wil st, bringe ich dich zu unserem Vater.«
Er versank wieder in seiner Erstarrung, dachte lange nach und sagte endlich: »Nein, ich habe keinen Vater.«
»Aber doch!« rief ich. »Ich hab’s dir gerade erklärt.«
»Ihr versteht nicht, Armand. Es ist zu spät für einen Vater, für einen Bruder, für Menschen.« Er schlug mit der Faust gegen seine Brust.
»Hier drin ist es tot, wie meine Ohren tot sind. Ich kann die Menschen nicht verstehen, und sie verstehen mich nicht. Dort hinten am Galgen ist das letzte gestorben, wofür mein Herz noch geschlagen hat.«
»Aber was willst du tun, Quasimodo?«
»Ich werde Dom Frollo suchen.«
»Willst du dem Verräter weiterhin dienen?«
»Ihm?« Ein gefährliches Grollen drang tief aus seinem Innern. »Wenn ich ihn finde, wird er büßen!«
»Du willst ihn töten?«
»Was sonst!«
Er sprang auf. Ich ergriff seine Hand, wol te ihn festhalten. Kurz blickte er auf mich herab und sah mich beinahe zärtlich an. Dann riß er sich los und lief davon, floh vor mir, seinem Bruder, vor den Menschen.
Sicher und geschickt wie eine Bergziege auf den höchsten Felsen sprang er über das Dach der Kirche. Plötzlich hing er in der Luft, und ich fürchtete schon, er würde sich zu Tode stürzen. Aber mit einem kühnen Satz landete er auf einem südlichen Strebebogen und rutschte darauf nach unten wie ein spielendes Kind. So verschwand er aus meinem Blickfeld.
Ich verfluchte das Schicksal. Nach so langer Trennung den Bruder zum Bruder zu bringen, nur damit sie einander wieder verlieren! Darin lag nichts Gerechtes, nichts Gnädiges, nur pure Lust am Schmerz der Menschen. War das Gottes Walten? Bestätigte es nicht vielmehr die Dragowiten, die in dieser Welt nichts Gutes sahen?
Mit diesem bitteren Gedanken verließ ich die Kathedrale von Notre-Dame. Für immer, wie ich hoffte.
ACHTES BUCH
Kapitel 1
Die sprechende Ziege
Ich irrte lange durch die Gassen und kehrte schließlich in einer Schenke ein, wo ich meinen Schmerz über Sitas Tod und den Verlust meines Bruders vergebens mit einem Krug schlechten Weins zu betäuben suchte. Am Ende ging ich zum Tempelviertel. Was sonst blieb mir übrig?
Einer von Villons Wachtposten führte mich in das unterirdische Reich und dort in einen großen Raum, in dem ich einige Bekannte erblickte: Villon, Leonardo und seine beiden Freunde sowie Mathias.
Und Djali. Die Ziege trank gelangweilt aus einem Wassernapf. Die Gesichter der sich über einen niedrigen Tisch beugenden Männer wirkten höchst angespannt. Auf dem Tisch lag ein Stück Papier, das sie interessiert betrachteten.
»Ah, endlich kommt Ihr, Armand!« Ein Fremder hätte Villons To-tengrinsen nicht als erfreutes Lächeln zu deuten gewußt. »Fast wäre Euch die Neuigkeit entgangen.«
»Daß Mathias Djali gefunden hat?« fragte ich.
»Djali hat uns gefunden«, berichtigte mich der Zigeunerherzog. »Sie kam gegen Mittag ins Lager gelaufen, ist wohl lange durch die Gassen geirrt. Ein Glück, daß niemand sie eingefangen hat.«
»Ja, ein Glück für Djali«, sagte ich ohne wirkliche Anteilnahme.
»Sonst würde sie jetzt an einem Bratspieß stecken.«
»Ein Glück für uns!« erwiderte Villon. »Djali hat uns ein wichtiges Geheimnis erzählt.«
»Mit ihren Buchstabentafeln?« erwiderte ich ungläubig und zeigte auf das Ledersäckchen, das Djali immer am Hals getragen hatte. Sie trug noch immer ihr goldenes Halsband, das Säckchen aber lag auf dem Tisch, einige der Buchsbaumtäfelchen wahllos verstreut daneben.
»Ich dachte, das seien nur Kunststücke, die Sita der Ziege beigebracht hat. Oder steckt wirklich der Teufel in Djali?«
»Die Spielerei mit den Buchstaben ist billiger Schwindel«, sagte Villon und erntete einen bösen Blick des Zigeunerherzogs. »Djali trug noch etwas in ihrem Beutel, und das hat zu uns gesprochen, recht eindeutig zum Glück.«
Er klopfte mit dem Zeigefinger
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