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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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übrigen bin ich eher berüchtigt als berühmt.«
    Frollo sah ihn herausfordernd an. »Und ich bin kein Abtrünniger, sondern im Gegensatz zu Euch jemand, der den rechten Weg gefunden hat.«
    »Satans Weg als den rechten zu bezeichnen ist ein starkes Stück!«
    schnaubte Villon.
    Frollo reckte sein Kinn vor, fast berührte es Villons Gesicht. »Satans Jünger geben sich dadurch zu erkennen, daß sie die Rechtgläubigen als Anhänger des Bösen verunglimpfen.«
    Villons Mundwinkel zuckten, seine Augen weiteten sich. Es war, als sähe er Claude Frollo in ganz neuem Licht. »Ihr … glaubt es wirklich! Bislang ahnte ich es nur. Ihr denkt tatsächlich, Ihr beschreitet den rechten Weg.«
    »Was sonst?«
    »Kehrt um, Frollo!« rief Villon. »Die Schlange hat Euch verführt. Begreift Ihr nicht, daß Ihr Evas Rolle spielt?«
    »Geschwätz! Satans Dämonen sind für ihre flinken Zungen bekannt.
    Ich werde Euch zum Großmeister führen, damit er Euch die Maske der Scheinheiligkeit herunterreißt.«
    »Tut das«, seufzte Villon, scheinbar in sein Schicksal ergeben. »Ich kann es kaum erwarten.«
    Frollo wandte sich an de Harlay. »Gut gemacht, Bruder. Waren das die einzigen Eindringlinge?«
    »Wir haben keine weiteren gesehen.«
    »Habt Ihr Euch vergewissert, Bruder de Harlay?«
    »Wann denn? Wir mußten diesen hier nachstellen.«
    »Und wer bewacht den Eingang jetzt?«
    »Niemand. Ich brauchte jeden Mann zur Verfolgung.«

    »Der Eingang ist unbewacht?« Frollos Miene verdüsterte sich. »Lasst das nicht den Großmeister hören. Seht schnell zu, daß Ihr mit Euren Männern wieder auf Posten geht!«
    De Harlays Männer ließen Atalante los und folgten dem eilenden Rittmeister in den dämmrigen Tunnel. Tommaso trat zu seinem ver-wundeten Freund und stützte ihn. Er und Leonardo sahen Atalante besorgt an, fast zärtlich wie eine um ihren Sohn bangende Mutter oder eine um ihren Geliebten zitternde Maid. Gleich einer geschlagenen Armee folgten wir Claude Frollo durch den Höhlenkomplex. Wir trugen die Bauchläden und Leonardo seine Laute, was uns in den Augen der Dragowiten einen komischen Anstrich verleihen mußte.
    In der Höhle hätte es kühl sein müssen, viel kühler als draußen im Licht der Julisonne, doch das Gegenteil war der Fall. Die in den Öfen verbrennende Kohle und das in den Kesseln kochende Wasser trieben den Schweiß aus allen Poren. Die Luft war feucht, dick und schwer, ein Gemisch aus den Gerüchen von schwitzenden Menschen, harzi-gem Holz, rostendem Eisen und den Hauch der Jahrhunderte verströ-
    mendem Gestein. Der schwüle Brodem umschlang uns gleich einem Seeungeheuer, dessen vorstoßende Tentakel unsere Münder und Nasen verschlossen, uns den Atem raubten. War das die uns zugedach-te Höllenpein? Sollten wir uns in dieser klebrigen Masse auflösen, um von den gierigen Schlünden des Maschinenmonstrums, den Türen von Öfen und Kesseln, aufgesogen zu werden?
    Mir war, als wachse die Maschine mit jedem Schweißtropfen und jedem Atemzug, den sie uns stahl. Die Machina Mundi löste die Welt in klebrigen Dunst auf, um sich daran zu laben, sich ihrer ganz zu be-mächtigen und eins mit ihr zu werden. Die Weltmaschine blähte sich auf zur Maschinenwelt. Mich beschlich die Angst, Teil der Maschine zu werden, Eisen statt Fleisch, brennende Kohlen statt eines pochenden Herzens, zischender Dampf statt menschlichen Atems, mechanische Arbeit bei Tag und Nacht statt eines Lebens voller widerstreitender Gefühle, voller Glück und Leid.
    Was ich dann erblickte, wollte mir endgültig den Atem abschnüren.
    Ich spürte einen Stich im Herzen und das würgende Gefühl in der Kehle, das einen überkommt, wenn große Überraschung und ebenso-große Angst zusammentreffen. Diesmal bangte ich nicht um mein eigenes kleines Leben – ich fürchtete um Colette!
    Drei bis vier Klafter über unseren Köpfen schwebte sie in der Luft, über einem großen Becken mit brodelndem Wasser, eine Gefangene der Weltmaschine. Zwei Gefangene. Ihr Vater, Marc Cenaine, kauerte neben ihr in dem Eisenkäfig, der an einer Kette über dem Wasserbecken hing. Er sah noch abgezehrter, noch kränker aus als vier Monate zuvor im Kerker der Verfluchten. Ein Wunder, daß er überhaupt noch lebte, falls er noch lebte. Mit geschlossenen Augen hockte er in dem Käfig, in sich zusammengesunken, eine Hülle aus Haut und Knochen, die von Geist und Seele verlassen schien. Sein Totenschädel, der wie ein – allerdings von verfilztem Haar und Bart bedecktes –

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