Im Schatten von Notre Dame
Trotz des kalten Windes fühlte ich mich erhitzt, und meine Glieder zitterten. Falcones letzte Frage steckte mir in den Knochen.
Wie ein Fuchs, der seinem Opfer auflauert, hatte der kleine Kriminalleutnant vor mir gestanden, hatte mich mit zu Schlitzen verengten Augen fixiert, damit ihm keine Regung meines Körpers und meines Gesichts entging. Einem Sukkubus gleich, der keinen Tropfen Le-benssaft verschwenden will. Wie ein V mit ausgestreckten Armen, bereit, mich beim kleinsten Fehler zu umschließen und nicht mehr loszulassen.
Obwohl ich unschuldig war, am Tod der Augustinerin wie an dem des Zölestiners, mußte ich mich zur Ruhe zwingen, hatte ich doch schon den rauen Hanf gespürt, der sich um meine Kehle zusammenzog. Ich hatte Falcone die Händler genannt, bei denen ich eingekauft hatte, und die Badestube. Er hatte unverbindlich gelächelt und gesagt, die Frage habe er mir stellen müssen, selbstverständlich bestehe keinerlei Verdacht gegen mich, den Schreiber des Archidiakons von Notre-Dame. Dann, endlich, hatte er mich gehen lassen. Als ich den Krankensaal durchschritt, hatte ich, obschon ich Falcone nicht ansah, seinen bohrenden Blick in meinem Rücken gespürt.
Gelärm drang von der Kathedrale zu mir herüber. Eine Handvoll Mesner schwärmte aus, um das Volk aus dem Gotteshaus und dem Schatten seiner Portale zu vertreiben. Notre-Dame wollte ihre Tore schließen und sich zur Nachtruhe begeben. Gleichzeitig rief Glockengeläut die Priester, Diakone und Mönche zum Nachtgebet. Ich blickte hinauf zu den hohen Türmen der Kathedrale und fragte mich, in welchem von ihnen der schreckliche Glöckner jetzt wohl weilte und die Nachtglocke schwang.
Ich lief über den Platz, hastete die Stufen zum Portal des Jüngsten Gerichts hinauf und erklärte einem pferdegesichtigen Mesner, daß ich der neue Schreiber des Archidiakons sei. »Dom Claude Frollo wird mich nach Beendigung der Komplet gewiß empfangen wollen.«
Der Mesner bleckte Zähne, die so groß waren, daß die Grimasse einem Grinsen glich. »Das glaube ich nicht, Monsieur, o nein.«
»Weshalb nicht?«
»Ich habe erst kürzlich gesehen, wie Dom Frol o auf den Nordturm gestiegen ist. Da wird er sich nicht zum Nachtgebet herunterbemühen.«
»Führt mich zu ihm!« bat ich.
Der Pferdegesichtige wiegte seinen Kopf hin und her. »Wenn ich wüsste, ob ich den Archidiakon stören darf, wenn ich’s nur wüsste.
Er hat’s nämlich nicht gern, gestört zu werden, wenn er oben bei den Glocken ist. O nein, gar nicht gern hat er’s. Andererseits …« Die letzte Bemerkung versickerte in einem Zähneblecken, das etwas Unterwürfiges und zugleich etwas Forderndes und Verschlagenes hatte.
»Was wolltet Ihr sagen?« fragte ich ein wenig barsch, vergrätzt von der Aussicht, eine weitere Nacht im Freien und auf kaltem Stein verbringen zu müssen.
»Eine gewisse Entschädigung dafür, daß ich vielleicht Dom Frollos Zorn auf mich lade, wäre nicht unangebracht. Zumal es gute Sitte in Notre-Dame ist, daß ein Neuer hier was springen läßt. Eine milde Gabe, wenn Ihr so wollt, Monsieur.«
Also zückte ich meine Geldkatze, um die gierig ausgestreckte Klaue mit einem Sol zu befriedigen. Dabei stieß meine Hand an einen harten Gegenstand unten in meinem Lederbeutel – die Gabe des sterbenden Oblaten. Ich war noch immer nicht dazu gekommen, sie genauer zu betrachten. Um die Wahrheit zu sagen: Ich verspürte nicht das geringste Bedürfnis, mich an die schreckliche Nacht zu erinnern.
Schnell verschwand die Münze in den Gewandfalten des Pferdegesichtigen, und er führte mich ins Innere Notre-Dames. Hinter mir schlug mit einem dumpfen Krachen das schwere Mittelportal zu.
Ich stutzte, erschrak fast, denn ich kam mir wie ein Gefangener vor nicht wie ein Gast. Das Gefühl verstärkte sich beim Anblick der un-zähligen Figuren, welche die Räume zwischen den Säulen des Chors und de Schiffes bevölkerten. Engel und Dämonen, Heilige und Sünder, Menschen und Ungeheuer. Ein Kosmos aus Stein und Marmor, Gold und Silber, Erz und Wachs. Gleichwohl voller Leben, wie es mir schien.
Tausende von Augen starrten mich an, verfolgten mich mit neugierigen Blicken. Wie eine Armee von Wächtern, die mich nicht mehr aus ihren Klauen lassen wollte. Vielleicht rief das Flackern der vielen Kerzen und Talglichter diesen lebendigen Eindruck hervor. Etwas anderes konnte, durfte es nicht sein.
Ich war froh, als ich hinter dem Mesner in einen schummrigen Turm-aufgang zur Linken trat und diese
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