Im Schatten von Notre Dame
rücklings gegen eine Mauer prallte und mit dem Hinterkopf unsanft aufschlug.
»Die Dunkelheit ließ mich stolpern«, murmelte ich. »Besser, Ihr geht voran. Ich bin keine Fledermaus, daß ich mich in dieser Finsternis zu-rechtfinde.«
»Ist auch kein Ort hier oben für einen Menschen aus Fleisch und Blut, nicht in der Nacht, o nein«, brummte Odon und übernahm erneut die Führung.
Unterwegs fragte ich beiläufig: »Sind Euch die Gäste des Archidiakons bekannt, Odon?«
»Ich hab sie gar nicht sehen können«, antwortete der Mesner zu meiner Enttäuschung.
Ich hatte geglaubt, er würde mich wieder nach unten führen, doch Pierre Gringoires Zelle lag nicht auf dem Klostergelände von Notre-Dame und auch nicht im Wohnviertel der Kleriker, sondern hier oben im Glockenturm.
Als ich mich laut darüber wunderte, meinte Odon: »Ich würde hier auch nicht wohnen wollen. Dom Frollo und sein Glöckner sind nicht gerade eine heitere Gesellschaft, wie?« Er blickte sich nach allen Seiten um und fügte im Flüsterton hinzu: »Nehmt Euch in acht, Monsieur Sauveur!«
Bevor ich noch fragen konnte, wovor, war der Mesner schon verschwunden, vermutlich froh, den Glockenturm verlassen zu können.
Da die Zelle nicht verschlossen war, trat ich ein und sah mich in meiner neuen Bleibe um. Eine zweischnabelige Bronzelampe auf einem großen Tisch verbreitete hinreichend Licht; entgegen seinen Worten mußte der Archidiakon mit meinem späten Erscheinen gerechnet haben. Die Zelle war geräumig und sauber, und wenn man den kleinen Kamin beheizte, würde sie sogar behaglich warm sein. Zwei gro-
ße Fenster sorgten für ausreichendes Tageslicht, was für die Arbeit eines Kopisten nicht unerheblich war.
Neben der Lampe fanden sich alle Hilfsmittel, die ich für meine Tä-
tigkeit benötigte: Schreibfedern, Pinsel, Tintenfässer, Dornen, Lineale und Winkel, Schaber und Federmesser. Ich nahm die Federn aus dem mit Schnitzereien verzierten Holzkasten und ließ prüfend Zeigefinger und Daumen über die Schnäbel streichen. Die Werkzeuge waren von bester Güte, ganz nach Vorschrift aus einer der ersten fünf Schwung-federn vom linken Flügel einer ausgewachsenen Gans gefertigt und in heißem Sand gehärtet.
Daneben lagen drei in Leder gebundene Bücher, zwei dicke und ein schmales. Zwei der Bücher waren jungfräulich wie die Muttergottes, im dritten aber waren sämtliche sechshundert Seiten voll geschrieben, in einer verschnörkelten Schrift, wie sie in den Skriptorien der Klö-
ster üblich ist. Ein Mönch als Verfasser schied jedoch aus, denn die Sätze waren in Französisch verfasst, nicht in Latein. Ein Blick auf das Titelblatt bestätigte meine Vermutung: Denk- und Merkwürdigkeiten um den Kometen, welcher Anno Domini 1465 erschienen ist. Gesammelt und niedergeschrieben von Pierre Gringoire.
»Ihr beschäftigt Euch bereits mit Eurer Arbeit, sehr löblich, Monsieur Sauveur.« Dom Claude Frollo, wie aus dem Nichts aufgetaucht, trat ein und wies mit einem dünnen Lächeln auf das aufgeschlagene Buch. »Gringoire hat meine Dienste leider verlassen, nachdem er für mich das Buch über den Kometen verfasst hat. Ihm war es hier oben zu einsam. Ich hoffe, Ihr seid den weltlichen Genüssen nicht so sehr verfallen, daß Ihr Euch an den Rocksaum einer Ungläubigen hängt.«
»Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Domine.«
»Von Gringoire, der den Himmel von Paris« – Frollos Arme beschrieben einen Kreis, als wolle er den ganzen Glockenturm umfassen – »gegen den niedersten Sumpf der Gosse eingetauscht hat. Habt Ihr nicht gehört, was die Gassenjungen einander zu pfeifen?«
»Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Was ist mit Gringoire?«
»In der vergangenen Nacht hat er Hochzeit gefeiert mit dieser ägyp-tischen Tänzerin.«
»Meint Ihr etwa la Esmeralda, Dom Claude?«
»Ja, la Esmeralda, so nennt man sie.« Ärger und Verachtung schwangen in Frollos Stimme mit. Als hoher Kleriker konnte er nicht verstehen, daß es einem Mann verlockender erschien, sein Leben an der Seite der feurigen Zigeunerin zu verbringen als in dieser abgeschiedenen Schreibstube.
»Wie kam Gringoire dazu, la Esmeralda zu heiraten?«
»Fragt lieber, wie die Ägypterin dazu kam, ihn zum Mann zu erwählen. Er war so dumm, sich ins Reich der Bettler und Gauner vorzuwa-gen. Sie wollten ihn schon aufknüpfen, als la Esmeralda sich auf das alte Gaunergesetz berief, demzufolge ein Weib den Mann vom Galgen pflücken darf. Ein ketzerischer Heidenbrauch, der Lust
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