Im Schatten von Notre Dame
Heerschar nicht länger anschauen mußte. Klamm und abgestanden war die Luft in den engen Mauern des Glockenturms. Stufe um Stufe erstieg der Mesner, ich hinterdrein.
Nur hin und wieder warf eine Kerze in einem eisernen Wandhalter ihren Lichtschein ins Halbdunkel, gerade genug, daß ich die steinerne Treppe erahnen konnte. Mehrere hundert Stufen mußten hinter uns liegen, als wir endlich ins Freie traten.
Schwindel packte mich, als ich auf die Dächer der finsteren Stadt tief unter uns hinabschaute. Die Menschen schienen aus der Welt verschwunden. Hier oben auf dem Turm herrschten steinerne Wesen, Verwandte jener Statuen, die mich zuvor im Kirchenschiff begrüßt hatten. Ungeheuer mit grässlichen Fratzen, mit Flügeln und Klauen hockten auf den Balustraden, den finsteren Blick oder ein höhnisches Grinsen auf Paris gerichtet. Im Tageslicht mochten sie wie harmlose Wasserspeier scheinen, doch die Nacht enthüllte ihre wahre – dämonische – Natur.
Fast war mir, als erhöben sich die Geflügelten unter den Monstren und als ließe der Schlag ihrer steinernen Flügel die Luft erzittern. In Wahrheit mußte es sich um den Nachhall der verstummten Glocken handeln, deren Vibrieren sich durch Luft, Holz und Stein fortsetzte.
Ich starrte die Turmaufbauten an, in denen sich das Glockengestühl befinden mußte. Hockte darin noch der Glöckner, der Bucklige, Quasimodo?
Ich mußte den Namen laut ausgesprochen haben, denn mein Führer nickte und sagte: »Ihr habt recht, Monsieur, hier oben herrscht Quasimodo. Die Kathedrale ist seine Welt, und ihre Glockentürme sind sein Reich. Aber der Bucklige ist nur der Fürst. Sein Lehnsherr und König ist Dom Frollo. Wollen sehen, wo wir ihn finden.«
Wir folgten den verwinkelten Wegen und Stiegen des Turms bis zu einer kleinen Zelle in der hintersten Ecke, fast unter dem Dach des Turms. Lichtschein drang durch die Ritzen der geschlossenen Tür, dazu Stimmen.
»Hier also steckt er«, brummte der Mesner mehr zu sich selbst. »Und Besuch hat er auch noch.« Als er sich zu mir umwandte, lag Furcht auf seinen grobknochigen Zügen. »Besser ist’s, wir gehen wieder, Monsieur. Dom Frollo mag es nicht, wenn man ihn in dieser Zelle stört.«
»Weshalb nicht? Was tut er hier?«
»Niemand weiß es«, flüsterte der Mesner und legte den Finger an die Lippen, damit auch ich leise sei. »Die Tür ist stets verschlossen, und den einzigen Schlüssel trägt Frollo immer bei sich. Nicht einmal der Bischof wagt es, diesen Raum ohne seine Erlaubnis zu betreten.«
»Dann klopfen wir einfach an und fragen um Erlaubnis«, schlug ich vor. »Dom Frollo wird es noch weniger schätzen, wenn ich ihn spät am Abend behellige.«
Die Augen unter der vorspringenden Stirn des Mesners weiteten sich, und nachdrücklich schüttelte er sein kantiges Haupt. »Ihr solltet das Unheil nicht beschwören, Monsieur. Dom Frollo ist …«
»Was bin ich?« fragte eine scharfe Stimme, begleitet vom leisen Quietschen der Zellentür. Sie öffnete sich nur einen Spalt, durch den Claude Frollo unwillig nach draußen blickte. Als er den Mesner erkannte, fuhr er in barschem Ton fort: »Was stört Ihr mich so spät, Odon? Ihr wisst doch, daß ich hier oben keinen Menschen sehen will!«
»Ich weiß es sehr wohl, aber dieser Herr hier will es mir nicht glauben«, erwiderte Odon und machte ängstlich einen Schritt nach hinten, so daß der Lichtschein aus der Zelle auf mich fiel.
Sofort hellten sich Frollos Züge ein wenig auf. »Ah, Ihr seid’s, Monsieur Sauveur. Ich dachte schon, an meinem Geld sei Euch mehr gelegen als an meinen Büchern. Odon, führt meinen neuen Schreiber in Pierre Gringoires Zelle. Sie soll fortan sein Schlafgemach und sein Ar-beitsraum sein. Wartet dort auf mich, Monsieur.«
Er schloß die Tür, doch vorher erhaschte ich noch einen kurzen Blick auf seine Gäste. Ich sah zwei Männer, und beider Gesichter kamen mir bekannt vor. Aber nur das fleischige Antlitz des einen verband ich in jenem Augenblick des Schreckens, der mein Blut erhitzte und meine Gedanken durcheinander wirbelte, mit einem Namen. Zweimal hatte ich es bereits erblickt, und beide Male hatte der Mann auf einem Apfelschimmel gesessen.
Wie zuvor der Mesner Odon trat jetzt ich rasch zurück in den Schatten und hoffte, daß Gilles Godin, Notar am Châtelet, mich nicht erkannt hatte. Denn welche Gründe ihn auch trieben, er sah in mir den Mörder des Zölestiners.
»Was habt Ihr, Monsieur? Ist euch nicht wohl?« fragte Odon, als ich
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