Im Schatten von Notre Dame
einem der großen Wolltücher vom Schweiß zu befreien. Ich kleidete mich an und ging zur Tür. Der Januar neigte sich dem Ende zu, noch waren die Nächte kalt und frisch.
Und kalte Nachtluft war genau das, was ich brauchte, um mein erhitztes Gemüt abzukühlen und meine wirren Gedanken zu klären. Ich zog die Tür auf – und erschrak.
Fast wäre ich gegen einen Dämon geprallt, der in der Finsternis aussah wie eins der wasserspeienden Ungeheuer, die zur Verhöhnung alles Menschlichen die Fassade von Notre-Dame säumten. Ein weiterer Nachtmahr, der mich heimsuchte, um die Grenze zwischen Wirklichkeit und Wahn endgültig zu verwischen? Meine Nackenhaare sträubten sich bei dem unerwarteten Anblick der reinen Hässlichkeit, und kalter Schweiß rann mir über den Rücken.
Das eine kleine Auge meines Gegenübers weitete sich, um mich mit seinem Blick zu umfangen. Der dicke Schädel reckte sich vor, und die schwieligen Lippen entblößten lückenhafte Reihen krummer Zähne, von denen in Form und Stellung keiner dem anderen glich.
»Lasst mich ein, Maître!« Der dicke Schädel wandte sich nach rechts und links, und das Auge blickte suchend, fast ängstlich in die Nacht.
»Ist besser, wenn niemand mich sieht.«
Es war das erste Mal, daß Quasimodo, der Glöckner von Notre-Da-me, zu mir sprach.
Ich wich zurück und ließ ihn eintreten – natürlich. Wer wie ich gesehen hat, wie der Bucklige den unglückseligen Robin Poussepain durch die Luft wirbelte, hätte es nicht gewagt, Quasimodo zu widersprechen.
Er schloß die Tür mit einer raschen, ungelenk und ängstlich anmu-tenden Bewegung. Dann stand er verloren in meiner Zelle, wie zu Stein erstarrt. Und im kalten Mondlicht schien er tatsächlich nichts anderes zu sein als eine der unzähligen Statuen von Notre-Dame, verunglücktes Machwerk eines erschöpften Bildhauers.
Ich schürte das schwach glimmende Feuer mit dem Eisenhaken und legte ein paar Scheite auf, an denen bald gierige Flammen leckten, daß es knisterte. Mit einem dünnen Kienspan, der eine schwarze Rauch-fahne hinter sich herzog, entzündete ich die bronzene Tischlampe, und bald erfüllte das brennende Bucheckernöl den Raum mit seinem herben Geruch.
Während ich den Kienspan ins Kaminfeuer warf, forderte ich meinen ungebetenen Gast auf, Platz zu nehmen, doch als ich mich zu ihm umdrehte, stand er immer noch stocksteif da, und sein Auge glotzte mich forschend an. Ich erinnerte mich seiner Taubheit und wies auf die beiden Stühle am Tisch. Quasimodo schob seine unförmige Körpermasse durch den Raum und nahm mit einer fast komischen Verrenkung Platz. Das Holz des Stuhls knarrte unter dem Gewicht, und der Glöckner schnaufte wie unter der Last seines Buckels. Zögernd setzte ich mich ihm gegenüber und bemerkte in der Ruine seines Gesichts eine Scheu, die nicht zu der groben Gestalt passen wollte. Offenbar verspürte er mir gegenüber nicht weniger Befangenheit, als mich bei seinem Anblick befiel.
»Nun, was kann ich für Euch tun?« fragte ich und wurde mir danach erst bewußt, daß die Frage vergeblich gestellt war.
Quasimodo aber öffnete den krummen Mund und sagte mit seiner kratzigen, das Sprechen nicht gewöhnten Stimme: »Ihr habt etwas gesagt, aber ich habe es nicht verstanden, Maître Sauveur. Das Geläut der Glocken hat mich taub gemacht für alles, was nicht so laut und dröhnend ist wie ihr Gesang. Aber wenn Ihr mich anseht und dabei langsam und deutlich sprecht, mag ich Euch verstehen, und noch besser, wenn Ihr mir bei schwierigen Dingen Zeichen gebt.«
»So wie Dom Frollo?« fragte ich langsamer und mit deutlicher Beto-nung.
Quasimodo nickte schwerfällig und seufzte: »Ja, so wie Frollo, dessen Finger schneller zu mir sprechen, als ein menschlicher Mund es je könnte.«
Abermals fragte ich, was ich für ihn tun könne, und diesmal verstand er mich.
»Ich will Euch bitten, mir zu helfen, Maître. Ihr seid ein kluger und gutherziger Mann.«
Er brachte mich wahrlich zum Lachen. »Wie kommt Ihr darauf, Quasimodo?«
»Ihr könnt lesen und schreiben, also müßt Ihr sehr klug sein. So wie Pierre Gringoire, der vor Euch hier oben wohnte. Und für Euer gutes Herz spricht, daß Ihr versucht habt, mir Wasser zu reichen, als ich am Pranger stand.«
»Das habt Ihr bemerkt?« murmelte ich.
Er verstand mich nicht und stierte mich einfach nur an. Ich sah die blutige Szene auf dem Pranger vor mir und die gebundene, gequälte Kreatur, die sich unter Peitschenhieben krümmte und als Antwort
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