Im Schatten von Notre Dame
und Laster huldigt!« Ein tiefer Seufzer, und Frollos Gestalt straffte sich. »Der neue Be-sen kehret wohl. Schrieb das nicht Maître Freidank? In diesem Sinne ist es vielleicht am besten, wenn ein anderer, wenn Ihr Gringoires Arbeit fortführt, Monsieur Sauveur. Seid fleißig und gewissenhaft, dann soll Euch nicht nur Gottes Lohn überreichlich zuteil werden.«
»Ist das Buch über den Kometen denn nicht fertig gestellt?«
»Doch. Monsieur Gringoire hat gewissenhaft alles zusammengetragen, was er über die Geschichte der Kometen und besonders über den Kometen von 1465 ausfindig machen konnte. Eure Arbeit ist es, das Buch abzuschreiben. Aber nicht nur das, in das kleine Buch sollt Ihr alles eintragen, was Euch bei der Arbeit an Seltsamkeiten, an Widersprüchlichem oder Denkwürdigem begegnet.«
»Ein Index zu Gringoires Kometenbuch also«, meinte ich, und Frollo nickte. »Ist dieser Komet so wichtig?«
»Das eben will ich herausfinden, als Mann der Kirche und als Diener der Wissenschaften. Sind Kometen Zuchtruten Gottes oder Gesandte des Bösen? Schreibt alles auf, was Euch dazu in den Sinn kommt, Monsieur Sauveur. Ich werde mich über die Fortschritte Eurer Arbeit laufend unterrichten. Hier oben solltet Ihr die nötige Ruhe finden, um rasch voranzukommen. Wenn Ihr etwas benötigt, wendet Euch an Odon und die anderen Mesner. Ich werde sie anweisen, Euch in allem zu unterstützten.« Er wandte sich zum Gehen, blieb jedoch in der Tür stehen und drehte sich noch einmal um. »Ach ja, noch eine Bitte: Um meine Studien nicht zu stören, tretet niemals unaufgefordert in die Zelle, die ich mir hier oben eingerichtet habe!«
Er hatte es eine Bitte genannt, aber es klang wie ein Befehl, was durch seinen strengen Blick noch untermauert wurde. Als er gegangen war, fragte ich mich, welcher Art seine Studien wohl sein mochten, daß er dafür einen Notar hinzuzog. Für juristische Untersuchungen schien es mir nicht notwendig zu sein, sich auf die Türme von Notre-Dame zurückzuziehen. Und doch mußte es um ein rechtliches Problem gehen, wie mir klar wurde, als mir der Name von Frollos zweitem Besucher einfiel: Jacques Charmolue, königlicher Ankläger beim Kirchengericht. Ich hatte den grauhaarigen Mann mit dem zerfurchten Gesicht gestern im Justizpalast gesehen.
Angst packte mich, daß die juristische Versammlung mir gelten könne, dem angeblichen Mörder von Maître Avrillot. Aber hätte man mich erkannt, hätte man wohl längst die Sergeanten der Scharwache gerufen und mich festnehmen lassen.
Als ich Schritte hörte, hielt ich den Atem an und drängte mich an die Tür. Durch einen Spalt sah ich Claude Frollo und seine beiden Gäste auf dem Weg zur Treppe. Offenbar wollte der Archidiakon Charmolue und Godin verabschieden. Mir war’s nur recht.
Ein wenig erleichtert ließ ich mich auf das weiche Kissen des mas-siven Schreiberstuhls fallen und sann darüber nach, wie ich mich von dem Mordverdacht befreien konnte. Dabei fiel mir die Schnitzerei ein, die Totengabe des Zölestiners.
Was Avrillot so am Herzen gelegen hatte, daß er es mir im Tod noch anvertraute, vermochte mir vielleicht Aufschluss über das Geheimnis zu geben, das über dem seltsamen Vorfall lag. Ich legte die Geldkatze auf den Tisch und zog den schweren Gegenstand hervor.
Eine rotbemalte Schachfigur aus festem Holz, dachte ich zunächst, als ich das handgroße Gebilde mit dem würfelförmigen Sockel auf die Tischplatte stellte. Doch ich kannte kein Schachspiel mit so seltsamen Figuren. Es war weder ein König noch eine Königin, kein Läufer, kein Springer, kein Turm und auch kein Bauer.
Vor mir stand ein blutrotes Fabeltier mit dickem Kopf und gezack-tem Leib. Ein Drache, der sich zusammenrollte und in das Ende des eigenen Schwanzes biss. Was war an dieser häßlichen Figur so wertvoll, bedeutsamer als der Tod?
Nachdenklich drehte ich den Drachen im Lampenlicht, bis mir sein geringelter Leib wie ein Kreis vorkam. Ein blutiger Kreis, dick am Kopf und dünn am Schwanzende. Sehr ähnlich dem, den ich im Hôtel-Dieu gesehen hatte – im Bett der toten Schwester Victoire. Gezeichnet von der Sterbenden, mit ihrem eigenen Blut.
Sie hatte den Inhalt meiner Geldkatze gezeichnet, ohne ihn zu kennen!
Oder hatte sie heimlich meine Sachen durchwühlt, bevor ich mein Bewußtsein wiedererlangte? Aber weshalb die Blutzeichnung? Hatte sie mich damit beschuldigt, sie ermordet zu haben? Warum?
Hastig griff ich nach dem Drachen und steckte ihn zurück in den
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