Im Schatten von Notre Dame
hilfreiche Geste, auf die ich zurückgriff, in allen Einzelheiten schildern, reichte die Tinte eines ganzen Fasses kaum aus.
Zudem war Quasimodo nicht leicht zu verstehen. Wie bei vielen Tauben, denen es an Umgang mit anderen Menschen mangelt, hatte sich sein Sprachvermögen zurückgebildet, und selten sprach er ein Wort in aller Deutlichkeit aus. Falsch betonend und ganze Silben verschluk-kend, redete er auch noch mit einer Stimme, die dem Knarren und Ächzen eines alten Mühlrades ähnelte.
»Was ist nun mit diesem Buch?« fragte ich und zeigte auf das Neue Testament, ohne es zu berühren; ich scheute das Druckwerk wie der Teufel das geweihte Wasser. Für mich stellte es einen gewaltigen Frevel dar, die Heilige Schrift mit der Gutenbergschen Satanskunst zu verbreiten.
»Es soll zu mir sprechen, mir seine Geschichten erzählen.«
»Dann müßt Ihr es lesen.«
»Das will ich. Bringt Ihr mir das Lesen bei, Maître Sauveur?«
Soll ich sagen, daß ich überrascht war? Das wäre stark untertrieben.
Verblüfft, ja sprachlos starrte ich den Glöckner an. Dieser grobe Klotz, diese Missbildung der Natur, und die heilige Kunst des Lesens? Das schien mir fast ebenso unvereinbar wie die Heilige Schrift und Gutenbergs Druckgeschäft. Die Vorstellung, wie der krumme Kerl sich über das Buch beugte und sein haarüberwuchertes Auge auf den Zeilen der Evangelien ruhte, hatte etwas Absurdes an sich. Und dann gab es noch ein ganz anderes Hindernis, ihn zu unterrichten: seine Taubheit.
»Hattet Ihr früher nie das Bedürfnis zu lesen?« Damit folgte ich der alten Regel, derzufolge man geschickt ausweicht, indem man eine Frage mit einer Gegenfrage beantwortet.
»Dom Frollo hat immer gesagt, die Heilige Schrift sei nur für die Männer der Kirche, nur sie könnten das Wort Gottes deuten und verstehen. Und gelehrte Bücher seien nur für die Gelehrten. Das Volk werde durch Bücher nur auf unsinnige Gedanken gebracht und davon abgelenkt, dem Herrn in Demut zu dienen. Er wollte nicht, daß ich mich mit Büchern befasse. Und später, als die Glocken mir das Gehör genommen hatten, sprachen wir nicht mehr darüber.«
Erneutes Mitleid für Quasimodo keimte in mir auf, und ich schäm-te mich meiner Gedanken. Konnte nicht gerade für einen wie ihn die Heilige Schrift ein Trost sein? Ich spürte Wut auf Dom Frollo, daß er seinem Schützling diesen Trost verwehrt hatte. Ich beschloß, wieder-gutzumachen, was der Archidiakon an Quasimodo verbrochen hatte, und begann mit dem Unterricht, obwohl das Buch ein Druckwerk war.
Noch nie hatte ich das Evangelium nach Matthäus als so schwierig und Jesu Stammbaum als ein unüberwindbares Hindernis empfunden. Doch im Falle von Quasimodo, dem Tauben, mußte ich jeden Laut deutlich bilden und ihm die Begriffe zusätzlich verdeutlichen, am besten, indem ich auf sie zeigte. Aber wie sollte ich ihm die Namen aus dem Stammbaum des Erlösers begreiflich machen, wie ihm David, Abraham, Isaak, Jakob, Juda, Perez und Serach erklären?
Ich beschloß, das erste Kapitel zu überspringen, und begann erneut, diesmal mit Jesu Geburt. Doch kaum hatte ich dem verwirrten Quasimodo halbwegs verdeutlicht, was es bedeutet, schwanger zu sein vom Heiligen Geist, da sprang er mit solcher Heftigkeit auf, daß sein Stuhl umkippte. Er verbarg sich im hintersten Winkel der Zelle, den kein Lichtschein erreichte.
»Er kommt!« stieß der Glöckner im erregten Flüsterton hervor. »Vielleicht weiß er, daß ich gegen sein Gebot verstoßen habe. Bitte, Maître, verratet mich nicht! Tut so, als gehöre das Buch Euch!«
Sein Flehen erinnerte an das Jammern eines ungehorsamen Kindes, das seiner Mutter damit in den Ohren liegt, sie möge dem heimkehrenden Vater nichts von den bösen Streichen berichten. Wie eine zu-sammengerollte Katze lag Quasimodo auf dem Boden und rührte sich nicht, nur sein rasselnder Atem verriet seine heftige Erregung.
Gerade wollte ich ihn nach dem Grund seines seltsamen Benehmens fragen, da bemerkte ich, wie das Mondlicht von einem Schatten verdü-
stert wurde. Von einem Schatten in Menschengestalt.
Etwas von Quasimodos Furcht und Verstörung sprang auf mich über.
Ich beugte mich über das Buch und mimte, die Ellbogen auf die Tisch-kante und den Kopf in die Hände gestützt, die Finger an der Stirn und die Daumen an den Wangen, den nächtens Studierenden. Doch blickte ich nicht auf die mit Druckerschwärze verunstalteten Seiten, sondern zwischen den Fingern hindurch zum nächsten Fenster. Fast
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