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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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keinen Wert auf die Gesellschaft des buckligen Ungeheuers.
    Mein Magen war immer gefüllt, mein Gaumen schmeckte Wein nach Belieben, das Kaminfeuer vertrieb des Januars kalten Hauch, und mein Geist hatte anregende Beschäftigung. Ich hätte rundum zufrieden sein können, wären nicht die schrecklichen Träume gewesen, die meinen Schlaf zur Qual machten. Träume, wie ich sie so eindringlich nicht kannte, wie ein zweites nächtliches Leben.
    Ein riesiges Adlernest aus Stein beherrschte meine Träume, ein so gewaltiger Fels, wie ihn nur eine ganze Armee von Nachtmahren in die unruhigen Gedanken meines Schlafs setzen konnte. Ich lernte zu unterscheiden zwischen dem naturgewachsenen Stein und dem von Menschenhand geformten. Mauern, Häuser und Türme erhoben sich auf dem Berg, ein Horst für Menschen, umringt von steilen Klippen: eine Fluchtburg zwischen Erde und Himmel.
    Die Menschen, die sich hier zusammendrängten, waren wahrhaftig auf der Flucht. Ich sah Männer und Frauen, auch Kinder, Alte und Kranke, Ritter und Soldaten. Ich empfand Vertrauen und Angst, Zweifel und Schrecken, Kälte und Hunger. Ich war kein Beobachter, sondern gehörte zu ihnen, den Verzweifelten, Mutigen, Starken.
    Wieder und wieder entführten mich die Mahre an jenen fernen Ort, in eine andere Zeit. Ich litt und betete mit den Geflohenen das Vaterunser, glaubte und hoffte mit ihnen, bangte und bebte vor Zorn. Und das Verhängnis rückte näher, unaufhaltsam wie der Tod, der einem Pestkranken sicher ist.
    Regen setzte ein. In jener seltsamen Gegend konnte es nur ein steinerner Regen sein. Seine Tropfen waren Felsen, die gegen die wehrhaften Mauern schlugen, sie erschütterten, Lücken in sie rissen. Stein traf nicht nur auf Stein, sondern auch auf Fleisch, Knochen und Blut.
    Auf Menschen, die unter dem Steinhagel starben oder zu Krüppeln zerschmettert wurden. Schreie, Tränen, Flüche mischten sich mit dem Donnergrollen des steinernen Regens.
    Dann wieder ein Raum voller Friede und Hoffnung, erfüllt von hellem Sonnenlicht, das in einem reinen Grün leuchtete und seine Strahlen durch alles sandte, bis hinein in die Seelen der hier Versammelten.
    Männer und Frauen in einfachen dunklen Gewändern umringten einen Tisch oder Altar, der geradewegs vom einfallenden Sonnenschein getroffen wurde und ihn in jenes friedliche grüne Licht verwandelte.
    Auch ich stand dort und fühlte mich so froh wie noch nie. Meine Seele schrie, als ich dem grünen Licht entrissen wurde, wieder hinaus in die Kälte mußte, eisiger Wind mir auf jenen trostlosen Klippen entgegenschlug.
    Feuer vertrieb die Kälte, Erlösung den Schmerz. Ein gewaltiges Feuer, dessen Nahrung Menschen waren. Freudig singend gingen sie in die Flammen, der Tod schien sie nicht zu schrecken. Ich aber schrie ob des unglaublichen Anblicks brennender Männer und Frauen, mit denen ich zuvor gelebt und gelitten hatte.
    Der Wunsch, bei ihnen zu sein, mit ihnen zu singen und die Flammen zu spüren, überwältigte mich. Aber ich konnte es nicht.
    Eine unsichtbare Macht zog mich fort und ließ die Flammen verschwinden. Nur die sengende Hitze blieb.
    Blasses Mondlicht schien durch die großen Fenster in meine Zelle und verlieh allen Gegenständen verschwommene, unwirkliche Konturen, als wären auch sie nur Bestandteile eines Traums. Das Feuer im Kamin war erloschen, mochte nur noch dünn unter der Asche schwelen, zu schwach, mich zu wärmen, geschweige denn zu erhitzen. Der Schweiß, der meine Stirn, mein Gesicht und meinen ganzen Körper bedeckte, war ein Ausfluss des Traums. Ein Zeichen, wie heftig die wirren Gespinste des Schlafes mich ergriffen hatten.
    Mit jeder Nacht waren die Träume eindringlicher geworden, beunruhigender, wirklicher. Warum? Und weshalb spielten sich immer die gleichen Szenen ab? Ich glaubte nicht an einen Zufall. Begonnen hatte es hier oben auf dem Turm, in der Schreiberstube von Pierre Gringoire. Gab es eine Verbindung zwischen der Kathedrale und der Bergfestung? Existierte diese Burg, so wirklich sie mir im Traum erschien, überhaupt? Oder vergifteten die Nachtmahre meinen Verstand, so daß sich die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verlor?
    Die Hitze, die mich trotz des längst erloschenen Kaminfeuers umfing, drohte mich zu ersticken. Ich konnte weder atmen noch klar denken, befand mich noch halb in der Traumwelt. Dumpf spürte ich: Ich mußte raus aus dem Bett und der Zelle!
    Mit einer fahrigen Bewegung schlug ich die Decke zurück und wankte zur Waschecke, um mich mit

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