Im Schatten von Notre Dame
bro-katbesetzten Lederbeutel, den ich mit fliegenden Fingern verschnürte.
Trotzdem fühlte ich mich nicht wohler. Ich brauchte frische Luft und lief hinaus auf den Turm, bis zur Brüstung, wo mich die Steindämonen angrinsten.
Ich sah hinunter auf die unzähligen verwinkelten Dächer von Paris und fragte mich, wer über wen herrschte: die Menschen über die Stadt oder die Häuser über ihre Erbauer? Diese Stadt zog mich in einen Strudel unerklärlicher Vorfälle, als sei sie ein lebendiges Wesen und ich nur ein lebloser, willenloser Stein.
Aber auch Steine erwachten zum Leben. So schien es mir, als unter mir eine Skulptur an der Mauer des Glockenturms in Bewegung geriet. Sie kletterte an der senkrechten Fassade entlang, ungeachtet der Gefahr, abzugleiten und in die Tiefe zu stürzen.
Doch es war keine Steinfigur. Als das Sternenlicht auf den Kletterer fiel, erkannte ich die unförmige Gestalt des Buckligen. Quasimodo, der wie eine Spinne an der äußeren Turmmauer klebte, blickte aus seinem kleinen linken Auge nach oben, geradewegs zu mir. Ich taumelte zurück, nur darauf bedacht, aus dem Blickfeld des Glöckners zu verschwinden.
Als ich mir verdeutlichte, daß die unwirkliche Szene einzig meiner überreizten Phantasie entsprungen sein konnte, trat ich vorsichtig wieder an die Brüstung und schaute nach unten. Und tatsächlich, Quasimodo war verschwunden. Ich aber fühlte mich keineswegs erleichtert.
Zu düster waren die Schatten von Notre-Dame, die mich umfingen.
ZWEITES BUCH
Kapitel 1
Das Rätsel von Notre-Dame
Die Januartage auf dem nördlichen Turm von Notre-Dame ver-strichen so eintönig, daß ich nichts spürte von den verhängnisvollen Fäden, die sich dichter und dichter um mich zusammenzogen.
Jedenfalls nicht in den Stunden des Tages, an denen ich wachte und arbeitete. Vielleicht lag es daran, daß Pierre Gringoires seltsames Buch meine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte, mich derart in seinen Bann zog, daß ich fast alles um mich her vergaß, auch den Umstand, daß ich ein Gefangener von Notre-Dame war.
Voller Eifer tauchte ich die Gänsefeder ins Tintenfass, um Gringoires gesammelte Erkenntnisse zu übertragen. Das erste Kapitel behandel-te Verschiedene Ansichten, welche Gelehrte des Altertums über Entste-hung, Zusammensetzung und Bedeutung der Kometen äußerten. Erregung ergriff mich ob dieser Gedanken, die ich zu durchdringen suchte und die dabei mich durchdrangen. Die frommen Brüder in Sablé hatten mich anhand der Heiligen Schrift das Schreiben gelehrt. Maître Frondeur hatte mich mit Schriftsätzen, Urkunden und Verträgen ge-füttert. Nebenbei hatte ich mir etwas Handgeld mit dem Abfassen persönlicher und geschäftlicher Briefe für die Einwohner meiner Heimatstadt verdient, trockene Abrechnungen und alberne Familiengeschich-ten. Dies hier war etwas Neues: Meinungen, die miteinander im Widerstreit lagen; Sätze, die mich herausforderten, mir ein eigenes Urteil zu bilden. Hatte ich eine solche Beschäftigung nicht längst gesucht, als mir die Arbeit für den Advokaten als zunehmend geistlos erschienen war?
Die Gedanken der großen Gelehrten ersetzten mir den Umgang mit den Menschen, der Glockenturm die Welt. Gern ließ ich einige Zeit verstreichen, bevor ich mich wieder hinunter ins brodelnde Paris wagte. Dann hielten Kriminalleutnants und Scharwächter vielleicht nicht länger Ausschau nach dem vermeintlichen Mörder des Oblaten Philippot Avrillot.
Außer den zweibeinigen Ameisen, deren wirres Treiben ich verfolgte, wenn ich in Momenten der Muße vom Turm hinuntersah, erblickte ich kaum einen Menschen. Hin und wieder erkundigte sich Claude Frollo nach dem Fortgang der Arbeit, wenn er auf den Turm stieg, um in seiner Zelle geheimnisvolle Studien zu betreiben; seine eigentliche Wohnung lag im Kloster von Notre-Dame. Ansonsten sorgte Odon für mein leibliches Wohl, brachte mir Essen und was ich zur Arbeit benötigte. Der Mesner zeigte sich nicht mehr so schwatzhaft wie am Abend unserer ersten Begegnung, eher schien er verschlossen und darauf erpicht, sich so schnell wie möglich wieder zu entfernen. Vielleicht aus Angst vor Frollo. Oder vor Quasimodo.
Letzteren erblickte ich zwei- oder dreimal als schattenhafte Gestalt, wie er in seinem eigentümlichen Wackelgang zum Glockengestühl huschte oder vom Läuten kam. Der Glöckner schien mich zu meiden, vielleicht auf Anweisung des Archidiakons, der mich nicht bei der Arbeit gestört sehen wollte. Dem Herrn war’s gedankt, ich legte
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