Im Schatten von Notre Dame
auf ihr verzweifeltes Betteln um Wasser nur Missgunst und Spott erntete. Jede Angst vor Quasimodo hatte mich verlassen, statt dessen spür-te ich eine Verbundenheit mit ihm, die mir vollkommen unerklärlich war. Er, ein Fremder, der vielleicht häßlichste Mensch auf Gottes Erdboden, erschien mir nahe wie ein alter Freund. So ähnlich dachte ich, wenn ich auch keine alten Freunde besaß und mein Vergleich darum wohl so schief ausfiel wie Quasimodos Körperbau.
»Ich möchte Euch fragen, ob Ihr mir noch einmal helfen könnt«, fuhr Quasimodo zögerlich fort.
»Wobei?«
Er kramte in den Falten seines einstmals bunten, inzwischen aber reichlich abgeschabten Rocks und brachte ein Buch zum Vorschein, das er auf den Tisch legte. Der Einband aus glattem Schafsleder wies kaum Spuren des Gebrauchs auf, und als ich das Buch aufschlug, erkannte ich die Ursache seiner jungfräulichen Erscheinung: Es war ein neuartiges Druckwerk! Eine französischsprachige Ausgabe des Neuen Testaments, mit Holzschnitten verziert, gedruckt zu Paris im Jahre des Herrn 1481.
»Was habt Ihr, Maître, ist’s kein gutes Buch?« fragte Quasimodo, dem meine missbilligende Miene nicht entgangen war.
»Das Buch ist gut, aber die Art seiner Herstellung nicht.«
Quasimodo legte den Kopf schief und sah mich fragend an. »Also steht nichts Nützliches drin?«
»Doch, schon, man kann viel daraus lernen.«
»Das Buch spricht zu einem und erzählt Geschichten.«
»Das haben Bücher so an sich, und das wiederum macht sie erst wertvoll.«
»So ähnlich hat es der Italiener auch gesagt.«
»Der Italiener? Von wem sprecht Ihr?«
»Von dem Mann, der mir das Buch geschenkt hat. Ich bin so froh, daß es ein gutes Buch ist. Ich hab nur das eine.« Quasimodo verzog das Gesicht zu einer schiefen Grimasse, was wohl ein Glücksgefühl zum Ausdruck bringen sollte.
»Was ist mit diesem Italiener? Wo habt Ihr ihn getroffen?«
»Unten in der Kathedrale. Er war in den letzten Tagen mehrmals da, um mit mir zu sprechen.«
»Konntet Ihr ihn verstehen?« fragte ich fassungslos.
»Er war sehr geschickt darin, seine Worte mit den Händen auszu-drücken.«
Der Italiener!
Meine Vorstellungen kreisten nicht länger um Kometen und geheimnisvolle Burgen. Mir kam nur ein Italiener in den Sinn, und der wirbelte meine Gedanken durcheinander wie ein kräftiger Sturm das welke Herbstlaub in den Wäldern an der Sarthe. Ich dachte an den kleinen Mann mit dem schwarzen Lockenhaar über dem faltigen Gesicht, der in seinem zerschlissenen Mantel eher wie ein Bettler aussah denn wie ein Kriminalleutnant am Châtelet: Piero Falcone. Was trieb den Leutnant dazu, sich in der Kathedrale herumzudrücken und Quasimodo auszuhorchen? Ging es Falcone um den Glöckner – oder um mich?
»Worüber hat sich der Italiener mit Euch unterhalten, Quasimodo?«
»Er stellte viele Fragen über Notre-Dame, und er hat viel gezeichnet.«
»Gezeichnet? Was denn?«
»Die Kathedrale, die Skulpturen. Und mich!« Letzteres sagte er mit deutlichem Stolz, und eine seiner Bärenpranken klopfte gegen seine krumme Brust.
»Wieso Euch?«
»Er sagte, ich sei eine bemerkenswerte Erscheinung, die es verdiene, für die Nachwelt festgehalten zu werden. Findet Ihr das nicht, Maître Sauveur?«
»Doch, zweifellos, da hat er recht, Euer Italiener.«
»Warum fragt Ihr so nach ihm, Maître? Kennt Ihr ihn?«
»Möglich. War er von kleiner, schmaler Gestalt?«
»Nein, groß und stattlich.«
»War sein Gesicht von Falten durchzogen?«
»Es war so glatt und schön wie das einer Jungfrau.«
»War sein Haar lockig und schwarz wie Pech?«
»Lockig ja, aber eher hell.«
»Dann kenne ich ihn nicht«, sagte ich erleichtert und kam erst jetzt auf das Nächstliegende: »Nannte er Euch seinen Namen?«
»Ich sollte ihn mit Maître Leonardo ansprechen.«
Ich kannte keinen Mann dieses Namens und auch keinen, auf den Quasimodos Beschreibung paßte. Zwar blieb das Rätsel, weshalb sich dieser Leonardo für den Glöckner und die Kathedrale von Notre-Da-me interessierte, ungelöst, aber mir konnte es gleich sein. Offenkundig hatte es nichts mit mir und den beiden Todesfällen zu tun. – Das sollte sich als Irrtum erweisen, wie diese Zeit für mich überhaupt reich an Irrtümern und bösen Überraschungen war.
Vielleicht sollte ich noch erwähnen, daß meine Unterhaltung mit Quasimodo keineswegs so reibungslos ablief, wie sie sich dem Auge des Lesers hier darbietet. Wollte ich jedes Nachfragen des Tauben und jede vermeintlich
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