Im Schatten von Notre Dame
die Falle ging.
»Ich fühlte mich einsam auf dem Turm und wollte mich etwas mit Odon unterhalten.«
»Warum gerade mit ihm?«
»Wie Ihr vielleicht wisst, Monsieur Falcone, war Odon bis gestern mit der Sorge um meine Person betraut. Wir waren ins Gespräch gekommen, das wollte ich fortsetzen.«
»Und seid Ihr Odon heute Abend noch begegnet?«
»Natürlich ist er das!« platzte Joannes Frollo dazwischen. »Ich habe es Euch doch erzählt, Herr Leutnant. Ich kam auf der Suche nach meinem Bruder in die Kathedrale, wollte ihn um etwas, nun, finanzielle Unterstützung bitten, da sah ich, wie Armand Sauveur in einer der Seitenkapellen mit Odon sprach. Dann gingen sie hinaus auf den Vorplatz.«
»Stimmt das?« fragte Falcone.
»Das ist richtig. Ich hatte mich nach Quasimodo erkundigt, was wohl verständlich ist, und Odon zeigte mir das Waisenbett, in dem der Bucklige einst gefunden wurde. Danach ging Odon wieder hinein, um in seiner Arbeit fortzufahren.«
»Und Ihr?«
»Ich unternahm einen Gang über die Insel, wollte unter Leuten sein, die Einsamkeit auf dem Turm vergessen.«
Es wäre wohl nicht klug gewesen, Falcone von Colin und Godin zu erzählen. Der Leutnant hatte mich anscheinend ohnehin im Verdacht, da mußte ich nicht noch die Anschuldigungen des Notars auf mich laden.
»Habt Ihr dafür Zeugen, Monsieur Sauveur?«
»Nein.«
»Kein Wirt, keine Schankmagd, die Euch gesehen hat?«
»Ich war in keiner Schenke, bin einfach nur durch die Gassen gegangen.«
»Das nennt man ein billiges Vergnügen«, gackerte der Scholar.
»Lacht nicht darüber, Bruder!« erscholl eine scharfe Stimme vom Treppenaufgang. »Ich wäre froh, wenn Eure Vergnügungen nur halb so billig wären.«
Dom Claude Frollo löste sich aus dem Schatten der Wendeltreppe und trat auf uns zu.
Jehan feixte ihm entgegen. »Da Ihr das Thema gerade anschneidet, Bruderherz, ich kam nach Notre-Dame, um Euch um etwas Unterstützung meines Studiums zu bitten. Dem Herrn sei Dank, daß ich Euch doch noch antreffe.«
Der Archidiakon maß ihn mit strafendem Blick. »Angesichts eines Toten denkt Ihr nur an Euer Vergnügen, Jehan?«
»Vergnügen? Welchem Studenten bereitet das Studieren Vergnügen?
Harte Arbeit ist’s, und die Lehrer wollen gut bezahlt sein.«
»Sie sind bezahlt, das wisst Ihr so gut wie ich. Aber Eure Zeche und Eure Spielschulden sind es wohl weniger.«
»Nicht so laut, mein Bruder, die Polizei ist hier!«
»Ich glaube nicht, daß der Leutnant vom Châtelet nach Notre-Dame kommt, um wegen verbotenen Glücksspiels zu ermitteln.«
»Ganz recht, Monseigneur.« Falcone zeigte auf den toten Odon. »Das ist der einzige Grund meiner Anwesenheit. Ich vermute einen Zusammenhang mit dem Tod von Schwester Victoire.«
»Derselbe Mörder?« fragte Claude Frollo.
»Zumindest dieselbe Vorgehensweise und wohl auch dasselbe Motiv.«
»Welches?«
»Aus gesprächigen Menschen stumme Dämonen zu machen.«
»Weshalb?«
»Gute Frage«, seufzte Falcone. »Hätte ich die Antwort, hätte ich den Mörder.«
»Also verdächtigt Ihr nicht Monsieur Sauveur?«
»Wie kommt Ihr darauf, Monseigneur?«
»Ein Kaplan erzählte mir eben, Ihr hättet meinen neuen Kopisten im Verdacht. Ich befürchtete schon, nach einem Mesner auch noch den fleißigen Maître Sauveur zu verlieren.«
Claude Frollo bedachte mich mit einem geradezu warmherzigen Blick, so daß ich mich fragte, ob ich mich in ihm getäuscht hatte. Hatte ich ihn zu Unrecht verdächtigt, Odon den Umgang mit mir verboten zu haben? Aber weshalb fürchtete Quasimodo seinen Ziehvater, als sei er der Foltermeister Pierrat Torterue? Und warum hatte Odon sich so strikt geweigert, mit mir über Claude Frollo zu sprechen? Und nun war Odon tot. Wie Schwester Victoire, die von Claude Frollo überrascht worden war, als sie mir gerade mehr über ihn erzählen wollte.
Ein Zusammenhang?
Ich erwiderte den Blick des Archidiakons und suchte zu ergründen, ob sein Mitgefühl wahrhaftig oder geheuchelt war. Vergebens. Sein Antlitz hatte etwas Maskenhaftes. Zudem war er als hoher Geistlicher im Heucheln von Mitleid wohl durchaus geübt.
»Euer Kopist bleibt Euch erhalten, Domine«, sagte Falcone nicht nur zu Claude Frollos, sondern vor allem auch zu meiner Beruhigung. »Ich wollte lediglich mit Monsieur Sauveur sprechen, weil er einer der letzten ist, die Odon lebend gesehen haben.«
»Ein Mord in der Kathedrale unserer Heiligen Jungfrau!« Claude Frollo schüttelte heftig den Kopf und bekreuzigte sich. »Wo dies
Weitere Kostenlose Bücher