Im Schatten von Notre Dame
ziehen mögen, um die Wand aus Schweiß-, Bier- und Weindunst zu zerschneiden. Und mit den Gerüchen umfing uns der ausgelassene Lärm des gut besuch-ten Hauses. Der Schankraum war groß, und fast jeder der grobgezim-merten Tische war besetzt. Neben der Theke gab es einen Durchgang sowie eine nach oben führende Treppe. Gelangte man dort zu jenen von Falcone gepriesenen Wonnen des warmen Fleisches?
Der Leutnant hatte einen freien Tisch erspäht und zog mich mit sich, vorbei an einem Spielmann mit Lockenmähne, dessen mit südlichem Zungenschlag vorgetragenes Lied von einem harten Kerkerleben nicht recht zu den lustigen Klängen seiner Laute passen wollte.
Ich sprach Falcone darauf an, während wir uns setzten, und er sagte:
»Das ist auch eine von Villons Balladen. Bei der Dicken Margot dürfen nur Lieder von Villon gesungen werden. Der alte Muschelbruder hat ein aufregendes Leben geführt. Seine Verse sind gewiß nicht immer heiter, aber er wußte, worüber er schrieb.«
Ich mußte ihn verdutzt angestarrt haben, denn Falcone fragte mich, was mit mir los sei. Er konnte nicht wissen, daß seine Worte mich um einige Wochen zurückversetzt hatten, in das Badehaus an der Rue de la Pelleterie. Ich sah die süße Toinette vor mir, wie sie sich in plötzlichem Erschrecken von mir abwandte und mich einen ›Muschelbruder‹
nannte. Und ich fühlte mich von Maître Aubert und seinen rohen Gehilfen bedroht, die den vermeintlichen Muschelbruder aus der Badestube drängten.
»Ich verstehe Eure Worte nicht, Monsieur Falcone. Was ist ein Muschelbruder?«
»O selige unwissende Jugend!« seufzte der Leutnant mit gespieltem Pathos. »Als Ihr geboren wurdet, hatte die Organisation der Muschelbrüder ihre Macht schon verloren. Und selbst wenn sie weit verbreitet war, mag ein so entlegener Ort wie Sablé von ihr verschont geblieben sein. Habt Ihr wirklich nie von der Coquille gehört?«
»Von der Muschel? Nein.«
»Eine der gefürchtetsten und größten Gaunerbanden Frankreichs.«
»Ich wurde von Mönchen erzogen.«
»Das erklärt einiges.« Ein heiteres Glitzern trat in Falcones Augen.
»Die eine Gaunerbande spricht nicht gern über die andere, wie?«
Ich zuckte mit den Schultern und winkte eine Magd heran, die sich vor derben Rufen und frechen Händen kaum retten konnte.
»Braten, Käse und Wein, schwarzen Morillon«, bestellte Falcone.
»Den Braten am Stück, damit er schön saftig ist.« Er verfolgte den sich hüftschwingend entfernenden Rotschopf mit einem sehnsuchtsvollen Blick, bevor er sich wieder mir zuwandte. »Nun, Monsieur Sauveur aus dem beschaulichen Sablé, da Ihr die Coquille nicht kennt, beginne ich mit meiner Erklärung besser bei Adam und Eva. Ich vermute, auch von den Ecorcheurs habt Ihr noch nie in Eurem jungen Leben ge-hört?«
»Von den Schindern? Natürlich habe ich von ihnen gehört!« erwiderte ich in einer Mischung aus Stolz und Empörung. Wem gefällt es schon, als dummer Junge dazustehen? »Während des Krieges wurde auch Sablé nicht von ihnen verschont, die älteren Bürger wußten wahre Schauergeschichten zu erzählen. Von den Schinderbanden, dem Abschaum des Krieges, entlassenen oder entlaufenen Söldnern, die jedes Dorf und jeden Hof auf ihrem Weg heimsuchten, die Menschen folterten und missbrauchten und bis auf die Haut ausplünderten.«
»Oft nicht nur bis auf die Haut. Wenn die Bauern und Dörfler ihre Habe zu gut versteckt hatten oder tatsächlich bettelarm waren, zogen die Ecorcheurs ihnen die Haut bei lebendigem Leib ab.«
»Als warnendes Beispiel?« fragte ich nach, während mich die bild-hafte Vorstellung des Geschilderten erschauern ließ.
»Das auch. Und weil es den Schindern Spaß bereitete.«
»Und die Coquille ist eine ähnlich schlimme Bande?«
»Sie war es zumindest, seit etwa zwanzig Jahren gilt sie, wenn nicht als ausgerottet, dann wenigstens als gänzlich entmachtet. Man sagt, die Coquillards seien aus den Ecorcheurs hervorgegangen. Als nach den über hundert Jahren Krieg das Land verwüstet war und den ma-rodierenden Söldnerbanden keine Beute mehr bot, versuchten sie ihr Glück in den nur scheinbar sicheren Mauern der Städte. So entstand die Coquille, die Muschelbruderschaft.«
»Ein seltsamer Name. Woher stammt er?«
»Von einer Muschel, die den Mitgliedern dieser über ganz Frankreich verbreiteten Vereinigung als Erkennungszeichen diente. Vor-zugsweise benutzten sie eine unter dem Gewand versteckte Pilgermuschel. Ebenso fest verschlossen wie die Schale einer
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