Im Schatten von Notre Dame
verschwand ein unerklärlicher Druck, der seit seinem Erscheinen auf meiner Brust gelegen hatte. Frollo war ebenso undurchschaubar wie der Bettler Colin, wie der Geistermönch, wie Leutnant Falcone.
Nie wußte ich, ob der Archidiakon das, was er sagte, auch meinte.
Die Fenster beanspruchten meine Aufmerksamkeit mehr als die Bü-
cher. Je länger draußen auf dem Turm die Schatten der Säulen und Skulpturen wurden, desto öfter blickte ich hinaus und wartete. Ich wartete auf Claude Frollo. Darauf, daß er seine Zelle verließ. Sein Gespräch mit Gilles Godin schien seine Verstrickung in die seltsamen Geschehnisse zu belegen, deren Zeuge ich seit meiner Ankunft in Paris geworden war. Ich lebte mit ihm quasi unter einem Dach. Wenn ich ein Auge auf ihn warf, konnte es mir wohl gelingen, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen.
Als er seine Zel e tatsächlich verließ, fuhr ich heftig zusammen. Die Abenddämmerung hatte längst eingesetzt, und ich hatte die Lampe auf meinem Tisch entzündet. Gleichwohl war es draußen noch so hel , daß ich den Schatten vor einem der Fenster bemerkte. Die hagere Gestalt konnte nur Claude Frol o sein. Eine ganze Weile stand er dort, starr wie eine Steinsäule, und spähte zu mir herein. Ich täuschte vor, in Gringoires Schrift vertieft zu sein und den Beobachter nicht zu bemerken.
Der Schatten war kaum vom Fenster verschwunden, da löschte ich das Licht, eilte hinaus und hielt auf die Treppenpforte zu. Gestern hatte ich nicht viel Glück damit gehabt, Colin und den Notar zu verfolgen. Vielleicht war mir heute beim Archidiakon mehr Erfolg beschieden. Auf der engen Wendeltreppe zeigte sich, wie sehr ich irrte. Ich hielt inne, als ich Schritte vernahm, die sich nicht entfernen, sondern näher kamen. War Claude Frollo umgekehrt, weil er mich bemerkt hatte? Sollte ich ihm zu entkommen suchen oder mich besser heraus-reden? Doch womit?
Ich zögerte zu lange, um noch eine Entscheidung treffen zu können. Mit klopfendem Herzen wartete ich auf den Schatten, der sich im schwachen Kerzenlicht abzeichnete. Ein unförmiger Schemen, zu dem eine nicht minder ungeschlachte Gestalt gehörte. Ein paar Stufen unter mir verharrte der Glöckner von Notre-Dame und musterte mich mit blinzelndem Auge. »Muß rauf!« brachte er schließlich in seinem undeutlichen Kauderwelsch hervor. »Muß zur Vesper läuten.«
Ich drückte mich an die Wand, um ihn vorbeizulassen. Als er seinen verunstalteten Leib an mir vorüberschob, hielt ich die Luft an. Es hätte Quasimodo nicht die geringste Anstrengung gekostet, mich die endlosen Stufen hinunter in den Tod zu schleudern. Mit einem Grunzen, das Ausdruck sowohl von Dank als auch von Missmut sein konnte, verschwand der Glöckner schließlich aus meinem Blickfeld. Ich lauschte seinen schlurfenden Schritten und wartete, bis das Treppenportal mit dumpfem Krachen zuschlug. Ein kurzer Windstoß fegte an mir vorbei. Jetzt erst fühlte ich mich sicher und setzte meinen Weg fort.
Als ich das Langhaus der Kathedrale erreichte, läutete Quasimodo bereits zur Vesper. Durch alle Portale strömten die Kanoniker herein, aber den Archidiakon konnte ich unter den Betenden nicht entdecken.
Ich hatte mich so lange auf der Treppe aufgehalten, daß er mir entkommen war.
Um etwas Abstand von Notre-Dame und ihren Geheimnissen zu gewinnen, aß ich in einer Schenke am Petit-Pont zu Abend. Und in der Hoffnung auf einen tiefen Schlaf spülte ich den mit Hühnerfleisch, Speck, Äpfeln und Weißbrot gefüllten Pfannkuchen mit reichlich Châ-
teauneuf hinunter.
Wieder träumte ich von dem Mädchen, das sich nicht von seiner geheimnisvollen Suche abhalten ließ. Diesmal erinnerte es mich nicht an die Tänzerin, die ich bei der Dicken Margot gesehen hatte. Haut, Haare und Augen waren dunkler, wie bei la Esmeralda. Und der Mann, der von dem Felsbrocken erschlagen wurde, trug die Züge Quasimodos.
Beim Anblick des Toten übermannte mich eine tiefe Traurigkeit, verbunden mit dem Gefühl, einen großen, unwiederbringlichen Verlust erlitten zu haben. Eine Anwandlung, die ich mir nicht näher er-klären konnte. Ich starrte auf den Leichnam des Buckligen und vermochte kaum zu atmen, als laste der todbringende Felsen auf meiner Brust. Schluchzend brach ich zusammen. Meine Tränen benetzten das im Tod gar nicht mehr hässliche, sondern friedvoll wirkende Antlitz.
Als ich erwachte, waren meine Augen feucht, und ich empfand dieselbe Trauer wie im Traum.
Kapitel 7
Der Italiener
Am folgenden Tag
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