Im Schatten von Notre Dame
aber, da der Komet erschien, warf jener Geistliche mit wilden Beschimpfungen um sich, die in Verdächtigungen gipfelten, führende Herren der Kirche, der Stadtoberen und sogar aus des Königs Umgebung hätten sich verschworen, die Welt in ewige Finsternis zu stürzen. Um seinen wirren Reden Einhalt zu gebieten und das Volk vor den gefährlichen, aufrührerischen Gedanken zu schützen, ergriff man den Irren und sperrte ihn ins tiefste Verlies. Heute ist von dem Mann nicht mehr geblieben als der Name: Guillaume de Villon.
Erneut schlug ich das Buch mit großer Heftigkeit zu, als könnte ich so die wirbelnden Gedanken aus meinem Kopf vertreiben, sie in das Papier bannen, dem sie entströmt waren. Nur zu gut erinnerte ich mich an meinen ersten Besuch bei der Dicken Margot, als Falcone und die Wirtin mir von dem Dichter Villon, dem angeblichen König der Muschelbrüder, berichtet hatten. Was, zur Hölle, hatte sein Vater in dieser Kometengeschichte verloren?
Während sich Fragen auf Fragen türmten, entsann ich mich des erhebenden Gefühls, das ich gestern bei der Verfolgung Claude Frollos verspürt hatte. Endlich hatte ich etwas unternommen, um das Gespinst aus Geheimnissen zu durchdringen. Auch wenn es mich beinahe – da-für aber im wahrsten Sinne des Wortes – den Kopf gekostet hätte, hatte ich mich doch auf dem rechten Weg gefühlt. Ich hatte nicht wie ein in die Enge getriebenes Tier in meiner Zelle gehockt, hatte mich nicht verhalten wie der kleine Armand im Kloster von Sablé, der vergeblich auf seinen Vater wartete. Ich hatte wie ein Mann gehandelt und wollte es wieder tun. Sobald ich diesen Entschluß gefaßt hatte, spürte ich mein Blut in Wallung geraten, und es bedurfte nicht des Kaminfeuers, die Kälte aus meinen Knochen zu vertreiben.
Ich öffnete das lose Brett des Bettgestells und betrachtete die drei Gegenstände, die mit der undurchsichtigen Geschichte in Verbindung standen. Doch weder die hölzerne Schlangenskulptur noch die Zeichnung des Italieners oder die Templerspange wollte mir die Erleuchtung bringen, mir einen Hinweis für mein weiteres Vorgehen geben.
Ich konnte mich allein auf meinen Verstand verlassen. Darüber hinaus besaß ich nur einen Dolch, den ich inzwischen geschärft hatte, und eine nicht übermäßig, aber ausreichend gefüllte Geldkatze.
Wie ein Blitzschlag durchfuhr es mich, und ich kramte die Börse hervor, schalt mich einen Riesen von einem Narren, daß ich nicht schon eher darauf gekommen war. Ich war nicht zufällig nach Notre-Dame geraten. Nicht bloßes Schicksal hatte mich in das Netz aus Mord, Verrat und Geheimnis geworfen. Ich sah mich wieder an der Seine stehen, mit leerem Magen und verlorenem Mut, dann von den Bettlern bedrängt. Und ich hörte die Worte des Geistermönchs, der die Geldkatze vor meine Füße warf: Geht morgen in den Justizpalast. Die hohen Herren werden dort sein, um dem Mysterienspiel im Großen Saal beizuwohnen. Fragt nach Dom Claude Frollo, dem Archidiakon von Notre-Dame. Er sucht einen zuverlässigen Kopisten. Stellt Euch geschickt an, und Euer täglich Brot ist Euch sicher, Armand Sauveur!
Der Mönch hatte mich hergesandt. Aus welchem Grund, galt es herauszufinden. Denn damit hatte alles seinen Anfang genommen. Und ich wollte es herausfinden, wollte nicht noch einmal versagen wie bei der Suche nach meinem Vater, nach meiner Herkunft, nach mir selbst!
Keine Stunde später stand ich im Schatten des Justizpalastes und sah auf die Seine, auf die Wechslerbrücke und auf die sich jenseits der Doppelbrücke erhebenden verwinkelten Gemäuer des Grand-Châtelet. Sturmwind peitschte den Fluss, und nur die kräftigsten, wagemu-tigsten Fährmänner staksten ihre Lastkähne durch das wogende Wasser. Einige hatten kleinere Boote mit Ruderern vorgespannt, um nicht abgetrieben zu werden. Die Brücke war wie leergefegt. Wer sich bei diesem Wetter hinauswagte, den mußten sehr dringende Geschäfte treiben. So wie mich.
Ich gab mir einen Ruck und betrat die Brücke. Nicht die rechte, eigentliche Wechslerbrücke mit den prächtigen Häusern der bedeuten-den Geldwechsler und Geldverleiher, die in zwei dichten Reihen den sanften Bogen der Überführung säumten. Ich ging auf den linken Steg, der geradewegs über den Fluss führte und die bischöflichen Getreide-mühlen beherbergte. Der Volksmund sprach von der Müllerbrücke.
Auch jetzt wurden die großen Mühlräder unterhalb der Brücke vom Flußwasser angetrieben, und die von den hölzernen Schaufeln
Weitere Kostenlose Bücher