Im Schatten von Notre Dame
das Seil, das sie zu mir heruntergelassen hatten. Hoffend, daß es kein morsches, brüchiges Stück aus dem Besitz des Pfandleihers war, ergriff ich das Ende mit beiden Händen.
Sie zogen mich hoch. Ich verlor den Halt, pendelte in der Luft, den drei Männern und dem Seil ausgeliefert. Ihre Gesichter rückten nä-
her: das junge, mit Sommersprossen gesprenkelte des Rothaarigen; das kantige des Schwarzhaarigen; und das glatte, fast auf weibliche Art schöne des dritten Mannes mit dem hellen Haar. Jetzt erkannte ich ihn, den Spielmann, den Zeichner – Maître Leonardo.
Er streckte mir seine schlanken, weiblichen Hände entgegen, während die beiden anderen das Seil hielten. Ich griff zu, und er zog mich auf die Brücke. Meine Knie versagten den Dienst, und ich sank vor den dreien zu Boden.
»Jetzt dürft Ihr nicht zusammenbrechen, Monsieur Armand«, sagte eine vierte Person, die zu den anderen trat. »Das Haus des Pfandleihers steht in Flammen, die Nachbarn strömen zusammen. Wir müssen von hier verschwinden!«
Mit Leonardos Hilfe stand ich auf und blickte in das bärtige Gesicht des Sprechers. Es war der Bettler Colin.
Ehe ich noch eine Frage stellen konnte, nahmen sie mich in die Mitte und zogen mich mit sich, über die Brücke, dem rechten Seine-Ufer entgegen. Eine dicke schwarze Rauchwolke hing über der Pfandleihe.
Die Ratten, die das Haus bewohnt hatten, huschten auf die Brücke, ein sicheres Zeichen, daß es rettungslos verloren war. Nur der Regen und das Wasser der Seine würden die angrenzenden Gebäude retten.
Vor uns wuchs das Châtelet mit seiner Vielzahl von spitzen Türmen und Dächern in den grauen Himmel, und ich fragte meine Begleiter besorgt, wohin sie mich brachten.
»Keine Angst, bestimmt nicht zur Polizei«, sagte Colin ein wenig spöttisch. »Dann müßten wir auch erklären, was wir auf der Müllerbrücke zu suchen hatten, und das wäre schwierig.«
Ich atmete auf und sagte: »Dann ist’s gleichgültig, wohin Ihr mich führt, meinethalben auch zum Geistermönch.«
»Das trifft sich gut«, antwortete der Bettler. »Genau das haben wir vor.«
Kapitel 2
Ein Tier aus Holz und Stein
Durchnässt bis auf die Knochen, fror ich und klapperte mit den Zähnen. Zugleich war ich innerlich erhitzt, und meine Stirn glühte wie die Esse eines Schmieds. Schleier tanzten vor meinen Augen und ließen die Häuser der Neustadt zu einem grauen Brei ver-schwimmen. Wie ein willenloses Tier folgte ich den vier Männern durch unbekannte Gassen, froh, mich von der Müllerbrücke und dem bedrohlichen Grand-Châtelet entfernen zu können.
Etwas anderes wäre mir, zumal in meinem geschwächten Zustand, kaum übrig geblieben. Ich war allein, sie waren vier. Und ich hatte gesehen, wie die Klingen der drei Italiener das Leben aus den Schergen des Narbengesichts geschnitten hatten. Daß auch die beiden Gefährten Leonardos aus einem der Staaten jenseits der westlichen Alpen stammten, hörte ich an den kurzen Zurufen, mit denen sie sich verständigten. Colins hohe Stimme allerdings schien nichts anderes zu kennen als das Französische, das auch die Italiener beherrschten, mehr oder minder sperrig, am besten Leonardo.
Längst hatte ich die Orientierung verloren. Selbst wenn die engen Gassen gelegentlich den Blick auf ein Stück Himmel freigaben, war die Sonne nicht zu sehen, nicht einmal zu erahnen. Der Sturm hatte nach-gelassen, dafür hing nun ein dichtes grauschwarzes Wolkengeflecht über Paris und warf dicke Regenschnüre zur Erde. Immer mehr fühl-te ich mich wie ein Hund, der seinem Herrn treu und vertrauensvoll folgt – oder wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Gewiß, sie hatten mir das Leben gerettet, aber zu welchem Zweck? Man mag mich einen Feigling schelten, aber so war es nun mal: Obschon ich versucht hatte, den Geistermönch zu finden, machte mich die Aussicht, ihm bald gegenüberzustehen, beklommen.
Der unablässige, schmerzhaft harte Regen weichte den Boden auf.
Wir wateten durch immer tieferen Morast, und einmal hätte es mir fast den Stiefel ausgezogen. Die beiden Gefährten Leonardos, die sich Atalante (das war der Rotlockige) und Tommaso (der Schwarzhaarige) nannten, mußten mich aus dem Schlammloch ziehen.
Ich war so erschöpft, daß ich mich an eine hölzerne Hauswand lehnte, die mit einem lauten Ächzen und Knarren unter meinem Gewicht einzubrechen drohte. Ein hastiger Sprung brachte mich in Sicherheit.
Die alten Gebäude in dem mir unbekannten Viertel waren in einem
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