Im Schatten von Notre Dame
Zustand, der mit halbwegs verfallen noch zu gut beschrieben ist.
»Haltet durch, Monsieur Armand!« rief Colin. »Gleich haben wir’s geschafft. Dort seht Ihr schon die Türme des Tempels.«
Mein Blick folgte Colins ausgestreckter Hand und entdeckte die spitzen Turmdächer, niedrige und hohe, die dicht beieinander standen und dem Unwetter trotzten. Die Wahrzeichen der alten Festung verrieten mir, wo ich mich befand, und das trug nicht zu meiner Beruhigung bei.
»Die Burg der Tempelritter!« flüsterte ich, und ich glaube, Entsetzen schwang in meiner Stimme mit.
»Schon lang nicht mehr«, sagte Colin. »Nachdem die Templer verboten wurden, haben die Johanniter ihre Besitzungen übernommen.
Doch die Siedlung, die rund um den Tempel entstanden war, verfällt mehr und mehr, wie Ihr eben erlebt habt.« Er sprach beinahe gelehrt, gar nicht wie ein Bettler. Es war keine Überraschung. In ihm einen bloßen Lumpenstrick zu sehen, solch ein Narr war selbst ich nicht.
Leonardo drängte zur Eile, und wir tauchten tiefer in das Gewirr alter Häuser und Stallungen ein, das einst den Schutz der Templer genossen hatte. Ich dachte an die Versammlung der Neun und hatte die düstere Ahnung, vom Regen in die Traufe zu kommen.
Immer dichter rückten die Mauern zusammen, bildeten kleinere und größere Verschläge, in denen Menschen und Tiere um wärmende Feuer zusammenhockten. Durch löchrige, nur notdürftig mit Decken ge-stopfte Dächer tropfte das Wasser. Geordnete Gassen waren nicht mehr zu erkennen, nur die Vielzahl von Mauern, die miteinander verwachsen schienen wie die Glieder eines Lebewesens, eines vorzeitlichen Tiers aus Holz und Stein. Die Feuer in den Mauerlücken flackerten, unzähligen Augen gleich, wachsam nach al en Seiten. War mein Verstand nach den durchlittenen Anstrengungen überreizt, verwirrte Fieber meine Sinne? Je tiefer wir in das verschachtelte Gebilde eindrangen, desto fester glaubte ich daran, daß es insgeheim lebendig war, ein versteinerter Drache. Und der Regendampf, der vom sumpfigen Boden aufstieg und aus Mauerlöchern quol , war in Wahrheit der Atem des Ungeheuers.
»Was ist das?« fragte ich, halb verwirrt, halb andächtig. »Wo sind wir?«
»Ihr wolltet den Geistermönch sehen«, antwortete Colin. »Nun, hier ist er zu finden. Meinethalben könnt Ihr diesen Ort die Geisterklau-se nennen.«
Er blieb nicht stehen, sondern stieg eine unvermittelt sich auftuende Treppe hinab in den dunklen, dumpfigen Magen des Untiers. Der Gedanke, umzukehren und davonzulaufen, huschte durch meinen Kopf. Die drei Italiener hinter mir, an deren Klingen noch das Blut ihrer Gegner klebte, waren diesem Plan wohl hinderlicher, als steinerne Mauern und eiserne Ketten es gewesen wären.
Doch nicht nur unter Zwang stieg ich in die unbekannte Tiefe. Unruhe hatte sich meiner bemächtigt, das unbestimmte Gefühl, vor einer wichtigen Begegnung, einer großen Enthüllung zu stehen. Es war fast wie früher in Sablé, wenn in der Karwoche mein ganzer Leib zu krib-beln begann. Bruder Arnaud, der Infirmarius, dem ich davon erzählte, hielt es für ein Zeichen Gottes, für den Ausdruck meines kindlich reinen Herzens, den die bevorstehende Auferstehung des Herrn hervor-rief. Aber ich kam bald auf die Wahrheit. Nicht den Gekreuzigten erwartete ich, nicht den Vater im Himmel, sondern meinen eigenen leib-lichen Schöpfer. Ähnlich erwartungsvoll wie in jenen längst vergangenen Kindertagen empfand ich jetzt. Und fürchtete zugleich eine neuerliche bittere Enttäuschung.
Vorsichtig, denn unter meinen Tritten zerbröselte Stein wie trok-kenes Brot, nahm ich Stufe um Stufe, dankbar für jeden gelblichen Lichtfleck, den vereinzelte Wandkerzen in das finstere Gemäuer warfen. War dies der Ort, an dem die Templer vor zweihundert Jahren ihre gotteslästerlichen Riten und dämonischen Beschwörungen abgehalten hatten? Einen passenderen vermochte ich mir nicht vorzustellen.
Colin führte mich in einen großen Raum mit Tischen und Bänken, erhellt und erwärmt von einem Kaminfeuer. Einige Männer sa-
ßen hier, aßen, tranken und sprachen miteinander. Manche trugen die Kleidung ehrbarer Bürger, andere die von Bettlern. Doch kannten sie offenbar keine Standesunterschiede. Sie warfen uns neugierige Blicke zu, stellten aber keine Fragen.
»Geht zum Kamin und zieht Euch aus«, wies Colin mich an. »Ich hole Euch ein Tuch und trockene Kleider. Und heißen Würzwein, damit Euch auch von innen warm wird.«
Als ich nackt vor dem Feuer stand,
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