Im Schattenreich des Dr. Mubase
holte sein
Taschentuch hervor und polierte die Nickelbrille.
Tim hockte in tiefer Kniebeuge auf der
Ufermauer und starrte in den schwarz-grauen Dunst über dem Wasser. Die Insel
war gerade noch zu erkennen — ein ruppiger Schemen. Rechts von ihr — und noch
weiter draußen — war eine viel kleinere Insel; zumindest sah es so aus. Sie
schaukelte auf dem Wasser und entfernte sich, geschoben vom Wind.
„Der Kahn ist mindestens 150 Meter
entfernt“, sagte Tim leise. „Bei allem Heldenmut und meiner Liebe zu kaltem
Wasser — ich hole ihn nicht. Ganz bestimmt nicht. Dieser dämliche Kahn! Konnte
er nicht warten, bis wir an Bord sind!“
„Ich wollte die Kette knoten“, meinte
Karl kleinlaut. „Aber sie war zu steif.“
„Macht dir jemand Vorwürfe?“
„Du schweigst zwar darüber, aber
vielleicht denkst du...“
„Dich trifft keine Schuld, Karl. Ich
hätte den Kahn auch nicht besser festmachen können.“
„Wie kommen wir jetzt raus?“ fragte
Klößchen.
„Durchs Tor. Als Gregor mich rauswarf,
habe ich gesehen, welchen Knopf er zum Öffnen drückte — in dem Schaltkasten.“
„Und dann“, seufzte Klößchen, „den
langen, langen Weg am Ufer entlang. Bis zu unseren Tretmühlen. Auf schlechter Straße,
Wir werden in die Schlaglöcher fallen. Mir wäre es lieber, du hättest uns
zurückgerudert.“
„Vor allem ärgert mich“, sagte Tim, „daß
der Kahn jetzt auf dem See rumgurkt. Ungewollt haben wir dem Besitzer Mühe
gemacht. Er muß den Kahn wieder einfangen. Und ich glaubte, wir könnten es
bewerkstelligen, ohne daß irgendwer das Ausleihen bemerkt. Soll mir eine
Warnung sein! Man muß es sich dreimal überlegen, ehe man fremdes Eigentum
anfaßt — auch wenn man es nur borgen will.“
Sie schlichen los.
Hinter den Gebäuden auf der Südseite
parkten zahlreiche Wagen. Abfallcontainer quollen über. Kisten stapelten sich.
Ein drohendes Hindernis erwies sich aus der Nähe als aufgetürmter Bauschutt.
Auch hier, auf der Rückseite der Gebäude, wurde mit Licht gespart. Nur im Treppenhaus
dämmerte Notbeleuchtung. Man konnte sie sehen durch die Flurfenster. Irgendwo
tropfte ein Wasserhahn, und Klößchen stolperte über einen aufgerollten
Gartenschlauch.
Immer an der Mauer entlang, erreichten
sie das Tor.
Tim fand den Schaltkasten und versuchte
ihn zu öffnen.
„Verdammt! Der sträubt sich.“
In der glatten Metallplatte fühlten
seine Finger ein Schloß. Dummerweise auch noch ein Sicherheitsschloß, das nur
auf den passenden Schlüssel reagiert.
„Abgeschlossen“, knurrte Tim. „Was
wundern wir uns! Wenn hier noch andere Patienten wie Brauchnichts rumtoben, muß
Mubase mit Ausreißern rechnen. Da helfen nur rigorose Mittel. Diese Klinik ist
ein Gefängnis.“
Klößchen blickte an der Mauer hoch. „Über
die soll ich klettern? Ist hier irgendwo ‘ne Leiter?“
„Räuberleiter muß genügen.“ Tim stellte
sich dicht an die Mauer, die von wildem Wein überwuchert wurde. „Karl, du
zuerst.“
Tim faltete die Hände. Karl trat in
diese bewegliche Stufe, und der TKKG-Häuptling stemmte ihn hoch. Karl konnte
die Mauerkrone fassen, tat sich aber schwer mit dem Klimmzug. Tim drückte Karls
Fußsohlen himmelwärts, und schließlich saß der Gedächtniskünstler oben.
„Hier könnte man sich zum Sonnen
ausbreiten“, staunte er. „Die Mauerkrone ist über einen halben Meter breit.“
„Ich glaube“, sagte Klößchen, „Ich bin
etwas zu kurzwüchsig für diese Akrobatik. Bei mir fehlt ein halber Meter. Mir
wäre es lieber, Tim, wenn ihr mich von oben packt und hochzieht. An den Händen,
natürlich, nicht an den Ohren. Ich helfe dann, indem ich die Mauer hochlaufe.“
„Wie du willst.“
Tim nahm einen kurzen Anlauf, hechtete
und erwischte — armlang neben Karl — die steinerne Kante. Aufschwung — und er
saß neben seinem Freund.
In diesem Moment geschah, was Klößchen
später als eine Gemeinheit des Schicksals bezeichnete. Und damit hatte er
recht.
Drüben bei der Villa wurde eine Tür
geöffnet.
Greller Lichtschein fiel als verzerrtes
Rechteck — sozusagen als Rhomboid — in die Nacht.
Das allein wäre kein Unglück gewesen,
denn die Entfernung zwischen hier und der Villa war beträchtlich.
Aber der Dobermann!
Ein prachtvoller, vermutlich
rußschwarzer Rüde schoß ins Freie.
Hatte er gelauert — und schon hinter
der Tür ausgemacht, was sich hier tat? Oder war seine Nase so hervorragend, daß
sie sofort Witterung aufnahm?
Er bellte nur einmal, kurz und
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