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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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ohne zu wissen, ob sie dem Mädchen, das sie suchten, auch nur einen Schritt näher kamen. Samuel presste
das Buch gegen seine Brust und schaute auf die Uhr. Sie zeigte halb elf, aber das tat sie schon, seit sie den Wald betreten hatten. Als wäre die Zeit in dem Moment stehen geblieben, in dem er seinen Fuß zwischen die Bäume gesetzt hatte.
    Er blieb stehen.
    Da war ein Grollen, wie entfernter Donner.
    Als sich das Geräusch wiederholte, wusste er, woher es kam.
    Das ist kein Donner, das ist mein Bauch.
    Sehnsüchtig dachte er an die fünf Scheiben Käse, die er Ibsen vorhin gegeben hatte. Er hätte jetzt ein riesiges Stück braunen Käse essen können.
    Sein Hunger machte ihn ganz schwach. Wohin er auch schaute, überall sah er Essbares. Die Baumstämme schienen aus köstlichem Brot zu bestehen und der schlammige Pfad verwandelte sich vor seinen Augen in Bratensaft.
    Während er weitertaumelte, kam ihm ein ganz bestimmter Geruch in den Sinn.
    Wenn sein Vater an einem verregneten Freitagabend mit mehreren Portionen Fish und Chips nach Hause kam, vermischten sich der Duft des Malzessigs und der Geruch seines triefenden Mantels zu einem einzigartigen Aroma.
    Er musste an den Tag vor dem Unfall denken. Seine Mutter hatte einen Geburtstagskuchen für Martha gebacken und er hatte die Reste des flüssigen Zuckergusses aus der Schale lecken dürfen.
    Er schloss die Augen und kehrte in Gedanken in die Küche zurück, vergegenwärtigte sich den Geschmack der Zuckermischung auf seiner Zunge und das warme Lächeln seiner Mutter.
    Doch Erinnerungen können weder einen leeren Bauch füllen noch die Toten zum Leben erwecken.
    Während er die Augen weiterhin geschlossen hielt, wurden
seine Nasenlöcher plötzlich von einem Duft gekitzelt, und diesmal war es ein wirklicher Geruch - keiner, an den er sich bloß erinnerte.
    Nie zuvor war Samuel ein so köstlicher Duft in die Nase gestiegen.
    Er öffnete die Augen und musste unversehens eine Entscheidung treffen. Der Weg gabelte sich vor ihm in zwei Richtungen. Auf der rechten Seite führte er einen steilen Hügel hinauf, während er auf der linken sanft abfiel.
    Seine Nase traf die Entscheidung. Obwohl er schwere Beine hatte, dirigierte sie ihn den steilen, gewundenen Pfad hinauf, und diesmal schien Ibsen keine knurrenden Einwände zu haben.
    Samuel konnte den Geruch nicht identifizieren. Nie zuvor hatte er etwas Ähnliches gerochen. Es duftete süß und würzig zugleich. Intensiv, aber auch delikat. Es war ein Duft, der jeden anderen Duft auf der Welt vergessen ließ.
    »Mmmm«, murmelte er, weil seine Nase nicht nur das Kommando über seine Füße, sondern auch über seinen Mund übernommen hatte.
    Der Pfad wurde flacher und das Blätterdach über ihren Köpfen lichter. Ein sanftes Abendlicht breitete sich aus, als sie in einer Lücke zwischen zwei Bäumen plötzlich ein Blockhaus erblickten.
    Es besaß eine bogenförmige grüne Tür und zwei Fenster, deren eines geöffnet war. Hier ist es , dachte Samuel. Von hierher kommt der Geruch.
    Beklommen blieb er stehen und dachte daran, dass im letzten Haus, das sie entdeckt hatten, ein Skelett gewesen war. Er erinnerte sich daran, was das Buch und seine Tante ihm über all die lebensgefährlichen Kreaturen des Waldes erzählt hatten. Doch wer auch immer in diesem Haus wohnte, wusste vielleicht, wo Martha sich befand.

    Geleitet vom verführerischen Duft, der seine Nasenlöcher kitzelte und seinen Magen anregte, schritt er auf dem lichtgesprenkelten Pfad weiter. Ibsen winselte, doch auch er schien dem unwirklichen Duft, der die Luft erfüllte, nicht widerstehen zu können.
    »Mmmm«, murmelte Samuel erneut.
    Dann öffnete sich die Tür und aus dem Blockhaus trat ein kleines Männchen. Nein, kein Männchen - eher ein schmächtiges, kindliches Wesen mit spitzen Ohren und einem engelsgleichen Gesicht, das so zart und rein wirkte wie eine Schneeflocke.
    Kaum vorstellbar, dass dieses Gesicht zu einem mörderischen Geschöpf gehören sollte, doch Mörder treten nun mal in den unterschiedlichsten Größen und Gestalten auf. Was Samuel bald herausfinden sollte.

Der Wahrheits-Pixie
    S amuels Herz begann zu rasen. Die Angst pulsierte in seinen Adern. Der Fund des Schädels war schon unheimlich genug gewesen, aber immerhin hatte der nicht mehr gelebt. Er hatte zwar schon Huldren und einen Tomtegubb zu Gesicht bekommen, doch war das bei Dunkelheit und in großer Entfernung gewesen. Nun stand er am helllichten Tag einer lebenden Kreatur gegenüber,

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