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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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»Gibt es doch. Trinkinion ist so groß, dass die Unendlichkeit winzig klein wird. Mit dieser Zahl werden Traurigkeit, Glück und Erinnerung beschrieben.«
    Samuel: »Es gibt also keine Chance, mit meiner Schwester aus dem Wald zu entkommen?«
    Wahrheits-Pixie: »So gut wie keine. Die Chance, dass sich die Sonne in Butter verwandelt, ist ebenso groß.«
    Samuel: »Könnte ich jetzt deine Sandalen haben?«
    Wahrheits-Pixie: »Ich habe nur dieses eine Paar.«
    Samuel: »Du hast immerhin versucht, mich zu vergiften. Da könntest du mir jetzt wenigstens deine Sandalen geben.«
    Wahrheits-Pixie: »Äh … na gut.«
    Samuel: »Danke … die passen ja wie angegossen. Ibsen, wach auf! Wir müssen los und den Veränderer finden.«
    Ibsen (wird wachgerüttelt): »Wuff!«
    Wahrheits-Pixie: »Wollt ihr jetzt gehen?«
    Samuel: »Ja.«

    Wahrheits-Pixie: »Hm … na schön.«
    Samuel: »Gib dir Mühe, ein gutes Wesen zu sein.«
    Wahrheits-Pixie (in der Tür stehend und winkend): »Ich geb mir immer Mühe … mach’s gut.«
    Samuel: »Du auch.«
    Wahrheits-Pixie (in sich hineinmurmelnd): »Alte Stinkmorchel.«

Der Seiltänzer
    S amuel und Ibsen gingen den gewundenen Pfad hinunter, wie ihnen der Wahrheits-Pixie gesagt hatte, und hielten nach schattenlosen Wesen Ausschau.
    Samuel war fast so traurig wie seine Schwester, doch im Gegensatz zu ihr war seine Trauer mit Zorn gemischt, sodass er nicht genau wusste, was er fühlte. Es war weder reine Trauer noch reiner Zorn, sondern etwas dazwischen: Torn . Er wusste, dass dies kein Wort war, aber er fand, dass es eines sein sollte.
    Seiner Meinung nach waren die beiden größten Unglücke in seinem Leben geschehen, weil man ihm nicht richtig zugehört hatte.
    Hätte sein Vater auf ihn gehört, als er »Stopp!« geschrien hatte, wären seine Eltern heute noch am Leben.
    Hätte Martha auf ihn gehört, als er ihr sagte, sie dürfe nicht in den Wald gehen, dann stünden die Chancen, sie aus den Händen des Veränderers zu befreien, jetzt nicht eins zu einer Trinkinion.
    »Warum hören die Leute nicht auf mich?«, fragte er Ibsen. »Warum können sie nicht einfach tun, was ich sage?«
    Doch Ibsen hörte ihm auch nicht zu. Und falls er es doch tat, fiel ihm offenbar keine passende Antwort ein.
    »Hätten sie auf mich gehört, wäre alles in bester Ordnung. Mum und Dad wären noch da, Martha würde immer noch ihre bescheuerten Lieder singen und ich müsste nicht durch
einen gefährlichen Wald stapfen und nach Schatten Ausschau halten.«
    Während er so den kurvigen Weg hinabtrottete, dachte er kurz an diese andere Welt. Was würde er dort gerade tun? Er würde zur Schule gehen. Auf seine alte Schule in Nottingham. Es war Dienstagnachmittag. Wahrscheinlich hätte er gerade Mathe, Quadratwurzeln und so was. Er würde sich langweilen und mit seinem Lineal seinen Radiergummi bearbeiten, doch neben der Langeweile würde er eine große Freude empfinden. Eine Freude, die er immer für selbstverständlich gehalten hatte. Die Freude, eine Mum und einen Dad zu haben - auch wenn sie ihm nie richtig zuhörten. Mums und Dads waren nicht einfach irgendwelche Leute, sondern eine Art Sicherheitsnetz. Denn wie langweilig der Matheunterricht auch sein mochte und welche Probleme es in der Schule auch gab - sie waren immer für dich da. Vielleicht schimpften sie auch mal mit dir und doch würden sie dich immer unterstützen.
    Jetzt, da es sie nicht mehr gab, hatte er das Gefühl, in großer Höhe über ein Seil zu gehen. Der geringste Fehler konnte tödlich sein, denn es gab kein Sicherheitsnetz mehr, um ihn aufzufangen.
    »Geht einfach geradeaus«, wiederholte Samuel der Seiltänzer, während er von hohen Bäumen umgeben war. »Nicht zu weit rechts und nicht zu weit links.«
    Sie gingen an ein paar Hasen, einem Caloosh und einem Elch vorbei. Samuel seufzte erleichtert, als er ihre Schatten sah, und setzte seinen Weg fort, dem Veränderer entgegen.
    Plötzlich spürte er, wie ihm Tränen über das Gesicht liefen. Keine gefrorenen Tränen, die wie Eiszapfen waren, sondern heiße, wütende Tränen, die ebenso aus der Nase wie aus den Augen strömten. Sie waren einfach nicht aufzuhalten. Wie ein Wasserfall schossen sie immer weiter hervor, gleichgültig wie oft er sie wegwischte.

    Ibsen blickte zu ihm auf und spendete all den Trost, den eine weiche Zunge und ein treuer Blick bedeuten können, doch der Junge hörte nicht auf zu weinen.
    »Reiß dich zusammen!«, sagte Samuel zu sich selbst. »Du großes Baby!«
    Dann

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