Im schoenen Monat Mai
blöd.
9
Ich hab in der Nacht kein Auge zugetan, also hab ich in der Früh auch keins aufmachen müssen. Martial ist irgendwann endlich eingeschlafen gewesen, und ich hab im Schein der Lampe lange sein Gesicht angeschaut. Davon ist es nicht schöner und nicht hässlicher geworden, es war halt sein Gesicht. Dann hab ich die Lampe ausgemacht. Was gut ist in der Nacht, ist, dass es da finster ist. Bei den Hirnschüsslern in der Stadt ist es nie so finster wie bei uns, da ist immer eine Laterne an oder ein Ladenschild als Nachtlicht. Bei uns auf dem Land ist die Finsternis farblos und grenzenlos. Da kann alles Mögliche passieren, was man nicht sieht.
Wie ich zum Frühstück runterkomme, bin ich nicht der Erste, da sitzt nämlich schon der Wachtmeister in Monsieur Louis seinem Sessel. Der geniert sich vor überhaupt nichts, denke ich. Frau Truchon hat sich nicht wieder erholt in der Nacht. Sie schaut immer mehr aus wie die Leichen im Fernsehen. Da glaubt man immer, im Fernsehen ist alles falsch, aber in Wirklichkeit ist es genau andersrum, weil die echten Leichen nämlich nicht richtig ausschauen.
»Guten Morgen, Herr Wachtmeister. Haben Sie gut geschlafen?«
»Wann kommt denn der Notar? Es ist nach neun!«
Ich kann es nicht leiden, wenn Leute auf eine Frage keine Antwort geben. Er schaut in eine Jagdzeitschrift und nicht mich an, wenn er mit mir spricht. Er blättert in den Tipps für Jäger herum und macht ein Gesicht, wie wenn er mit sich zufrieden ist, aber nicht mit mir. »Haben Sie es eilig?«, frage ich zum Spaß. Ich sage euch später, warum.
»Nein, nicht besonders, aber ich habe die weite Reise nicht gemacht, um Jagdzeitschriften zu lesen!«
»Und wozu haben Sie dann die weite Reise gemacht, Herr Wachtmeister?«
»Na, wegen der Erbschaft!«, sagt er, wie wenn ihm schon alles gehört.
»Und was wollen Sie haben, Herr Wachtmeister, wenn die Frage erlaubt ist? Das Haus, das Geld, den Wald mit den Wildschweinen?«
Da schaut er mich ganz polizeimäßig an. Um das Thema zu wechseln, sag ich, Herr Truchon ist heute Nacht spät nach Hause gekommen und war ganz nass. Zwangsläufig, hat der Wachtmeister gesagt, bei dem Regen! Und bei den vielen Tränen! hab ich gesagt. Er schaut auf seine Uhr und zieht ein Gesicht, wie wenn er die Zeit nachrechnet.
»Schlafen die da oben noch? Um achtzehn Uhr treffe ich mich mit dem Lieferanten für Célines Hochzeitsessen. Um den reißen sich alle. Ich will den Termin auf keinen Fall verpassen.«
»Es kann durchaus sein, dass Sie ihn trotzdem verpassen.«
»Wie bitte?«
»Ich meine, bis die ganzen Papiere ausgefüllt sind und sich alle einig sind, wer was erbt ...«
»Aber wir wissen doch schon genau, wer was bekommt, mein armer Freund! Die Truchons, oder besser, der verwitwete Herr Truchon ... Gott sei der Seele seiner armen Gattin gnädig ... wird mit mir die Jagd übernehmen, Herr Milou, der lieber sein ... Geschäft ... behalten will, erbt die Immobilie, und der andere Herr, dessen Namen ich nicht richtig verstanden habe, nimmt das, was übrigbleibt ... die Ersparnisse von Monsieur Louis, seine Waffenfabrik, die Schweinemast, den Teich und was weiß ich noch alles.«
Die Immobilie, das heißt, das Gut. Ein kompliziertes Wort für ein normales, das jeder kennt. Es gibt Leute, die nehmen absichtlich die komplizierten Wörter, auch wenn sie die normalen kennen. Komplizierte Wörter sind keine Schimpfwörter, aber sie beleidigen einen mehr wie Blödian oder Trottel oder die ganzen Tiernamen. Solche Leute nehmen absichtlich die komplizierten Wörter, weil sie dir damit zeigen wollen, dass sie was sind, und du bist weniger. Lucette sagt, Sprache ist wie eine Art zu gehen, daran sieht man, wo du herkommst, und vor allem, wo du nicht herkommst. Lucette kommt gleich von zwei Orten, weil sie nämlich eine gute Erziehung bei ihrem Vater gehabt hat und dann fünf Jahre eine schlechte bei Pflegeeltern, die sie aber nicht gepflegt haben, wie der Name eigentlich sagt, sondern mit einer Latte geschlagen.
In dem Moment zieht der Wachtmeister den Rotz hoch.
»Rinnt Ihnen die Nase, Herr Wachtmeister?«
»Wie bitte?«
»Ich habe gefragt, ob Ihre Nase rinnt.«
Da hält er sich gleich die Hand vor die Nase und sucht mit der anderen in seiner Tasche nach einem Taschentuch und schaut peinlich berührt drein, weil es stört die Leute nicht immer, wenn sie das Leben von anderen Leuten kaputt zu machen, aber es stört sie immer, wenn ihnen was Gelbes aus der Nase rinnt.
Sacha Milou
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