Im schoenen Monat Mai
ihr Zimmer, das sie jetzt ja gar nicht mehr braucht, zuviel kostet, also soll sie ihre Siebensachen packen und spätestens am Abend verschwunden sein. Lucette hat ihren Koffer gepackt und Sacha Milou um ein bisschen Geld gebeten, der hat ihr einen Schein gegeben und gesagt, für den Neuanfang. Es hat aber keinen Neuanfang gegeben, weil Herr Hi, der wie jeden Montag, wenn sie von Saint-Benoît-sur-Leuze zurück war, gekommen ist, um es mit ihr zu machen, lauter gejault hat als Pistache und wieder gegangen ist, ohne irgendein nettes Wort zu ihr zu sagen oder sie zu trösten. Lucette hat nicht verstehen können, dass Menschen so verkommen sind. Sie hat nicht mehr erwartet, dass er sie heiratet und ein Drei-Zimmer-Appartement mit offener Küche mietet, aber ein bisschen Mitgefühl hat sie sich schon erhofft. Mitgefühl ist, wenn man ein ganz kleines bisschen leidet, damit man wem anderen, der sehr viel mehr leidet, eine Freude macht. Sie hat ohne Ende geweint, ich war dabei und habe die Pfütze aus lauter Tränen auf ihrem blauen Wollkleid gesehen. Für mich wird sie immer die Schönste sein, hab ich zu ihr gesagt, weil das Schönste ist nämlich die Liebe, und sie ist voller Liebe vom Kopf bis zu den Zehenspitzen, und das sieht man, wenn man sie anschaut. Ich liebe dich so sehr, Aimé, mein kleiner Aimé, hat sie gesagt, ich hätte dich so gern mein ganzes Leben bei mir gehabt und nicht bei Monsieur Louis gelassen, aber ich war so jung, weißt du ...! Und dann hat sie mir das Wiegenlied vorgesungen, das ich auswendig kenne, aber jedes Mal wieder wie zum ersten Mal höre.
Du kamst zur Welt
Aimé
ganz klein, mit Ach und Weh
Ich war selbst
noch ein Kind
mein Prinz
und taufte dich
Aimé
zum Trost
wohin ich auch geh
Wie Likör
die gute Fee
Aimé
Herzallerliebster
dass in deinem Namen
die Liebe besteh
Sie ist in einer gesprächigen Stimmung gewesen. Weißt du, Aimé, hat sie gesagt, man soll sich im Leben nie belügen und keine Geheimnisse haben voreinander. Sie hat es für eine gute Idee gehalten, dass sie mir ihr schlimmstes Geheimnis verrät, aber wenn ich dran denke, glaube ich, es gibt Geheimnisse, die man lieber geheimhalten soll. Sie wollte es mit Glacéhandschuhen anfassen, wie man so sagt, aber ihr Geheimnis ist keines für Glacéhandschuhe gewesen. Weißt du, Aimé, hat sie gesagt, als ich dich zur Welt gebracht habe, war ich dafür noch viel zu jung. Ja, ich weiß, hab ich gesagt, weil das hat sie mir schon so oft erzählt, dass ich nicht mehr überrascht hab tun können. Hast du dich nie gefragt, warum ich dich schon so früh bekommen habe, mit vierzehn, wenn andere Mädchen noch mit Puppen spielen? Doch, hab ich gesagt, ich hab dich auch gefragt, und du hast drauf gesagt, du hast es nicht erwarten können, dass du mich kennenlernst. Da hat sie ganz genervt dreingeschaut und gesagt, ja, aber da warst du doch erst zehn, und jetzt bist du sechsundzwanzig. Ja, Lucette, jetzt bin ich sechsundzwanzig, hab ich gesagt. Und mich gefragt, was ich denn hätte tun sollen die ganze Zeit, außer auf dem Dach sitzen und drauf warten, dass sie am Samstag in dem weiß-blauen Auto von Abdallah ankommt.
»Ich habe dir von meinem Papa erzählt, erinnerst du dich?«
»Ja, der war Polizist.«
»Und ich habe dir erzählt, wie ich von ihm weg bin ...«
»Ja, weggelaufen.«
»Ich meine ... in welchem
Zustand
.«
»In einem schlechten.«
»Nein, Aimé, hör zu, ich war schwanger.«
»Ja, stimmt, das hast du mir schon gesagt.«
»Und hast du dich nie gefragt, wer es war?«
»Wer was war?«
Ich glaube, ich hab ihr nicht sehr geholfen, aber ich habe auch gar keine Ahnung gehabt. Sie hat meine Hand losgelassen. Manchmal nimmt man wen bei der Hand, weil man was Schwieriges sagen will, und manchmal ist das, was man sagen will, so schwierig, dass man gleich wieder loslässt zum Zeichen, dass gegen die Art von Kummer nichts hilft. Sie hat ganz stark geatmet, wie wenn sie untertauchen will, und dann hat sie gesagt, mein Vater hatte einen Bruder namens Anselme. Mit dreizehn habe ich die großen Ferien bei ihm und seiner Frau Denise verbracht, weil dein Großvater krank war, er war depressiv. Und Anselme hat was gemacht, was er nicht hätte mit mir machen dürfen.
Ich hab sie angelächelt. »Und was hat der Anselme gemacht, was er nicht hätte machen dürfen?« Da hat sie mich auch angelächelt und meine Haare gestreichelt und nichts gesagt.
Aber ich weiß trotzdem, was dieser Anselme gemacht hat, ich bin ja nicht
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