Im schoenen Monat Mai
»Was für ein hübsches Akkordeon, Monsieur Milou!«, sage ich. »Fänden Sie es zu viel verlangt, wenn ich Sie bitte, ein kleines Stück für den Wachtmeister und mich zu spielen, solange wir auf den Notar warten müssen?« Der Wachtmeister schaut zur Standuhr, legt die Haut auf seiner Stirn in Falten und sagt nicht allzu laut und nicht allzu weit von meinem Ohr entfernt: »Das wird hart, aber wenigstens wachen die oben auf!« Irgendwas wie ein Lachen steckt dabei in seinem Hals. Er hat mir das deshalb ins Ohr gesagt, weil Boshaftigkeiten von Leuten am liebsten großzügig geteilt und ausgeteilt werden. Die Finger von Sacha Milou haben gerade noch im Leeren gespielt, jetzt fällt ihm vor lauter Enttäuschung alles runter, die Augenbrauen, die Backen und die Mundwinkel. »Ich hätte ja gern ein Liedchen gesungen, aber wenn Sie lieber Ihre Ruhe haben wollen, Monsieur …« Das hat er natürlich zum Wachtmeister gesagt, das »Monsieur«, weil zu mir hat noch nie wer Monsieur gesagt, ich bin vielleicht zu jung, oder mir fehlt irgendwas dafür. Aber Sacha Milou wartet gar nicht, dass der Wachtmeister Ja oder Nein sagt, sondern spielt und singt einfach los, was gar nicht so schrecklich ist, wie wir gedacht haben, der Wachtmeister und ich, sondern ganz wunderbar, der Hals wird einem immer enger und enger, bis man am Ende nur noch in ganz kleinen Zügen Luft holt. Sogar Herr Lyon-Saëck, dem eigentlich alles egal ist, außer dass er den Wald mit den Wildschweinen erbt, hat seine Kiefer aufeinandergepresst. So stehen wir da, weil wir, wie die Musik losging, gestanden sind und es seither unmöglich war, die Beine oder die Augen zu rühren, so sehr hat Sachas Stimme alles um uns herum erfüllt, wie ein Bad aus geschmolzenem Gold oder ein riesiger Wattebausch. In dem Lied ist eine Süße, die mit Freudenschauern in einem hochsteigt und mit dem Schmerz, den die Schönheit macht, wenn sie zu schön ist. Sacha Milou kann den Mund so bewegen, dass er zittert, ohne dass man es sieht. Das klingt wie Weinen, aber viel feiner. Das Akkordeon atmet unter dem Gesang, man kann kaum glauben, dass es ein Akkordeon sein soll, so schön hört sich das an, nie wieder werde ich etwas Schlechtes über das Akkordeon sagen, das ja den gleichen Ruf hat wie die Schweine, nämlich laut und vulgär zu sein. Wenn Sacha Milou singt, ist er überhaupt nicht mehr klein und fett und aufgeschirrt wie ein Zirkuskamel, sondern zum Sterben schön, es fällt einem schwer, ihn so zu hören und gleichzeitig zu hassen. Entweder die Musik hat Recht, und man muss alles verzeihen, oder die schönste Musik der Welt kann dich in das schlimmste Distelfeld stoßen. Wie es zu Ende ist, wollen wir, dass es weitergeht, der Wachtmeister und ich, haben aber nicht mehr genug Platz im Hals, um darum zu bitten. Sacha Milou hat sich auf das Kanapee gesetzt, und ein bisschen was von der Gnade hängt noch an seinen Fingern und seinem Mund, die nicht mehr dieselben sind wie vorher. Gnade ist, wenn alles vollkommen ist und man es nicht fassen kann. Wie ich wieder genug Luft zum Sprechen habe, sage ich zu Monsieur Milou, das ist schon was, wenn man so singen kann. Er hat eine Freude in den Augen und sagt, ich singe oft für meine Mädels, spät nachts, vor Sonnenaufgang, wenn sie müde sind, dann sitzen sie im Kreis vor der Bar im Erdgeschoss, ich singe, und sie schlafen nacheinander ein. Und ich singe so lange, bis die letzte eingeschlafen ist. Sogar der Wachtmeister, der das Gesetz sehr liebt und gegen Bordelle ist, denkt jetzt bestimmt, dass Sacha Milou nicht der Letzte von den Letzten auf Erden ist.
Wir sitzen alle drei in einer Stille, wo jeder weint, aber so tut, als wenn nichts ist, und zur Seite schaut. Dass wir geweint haben, hat das Lied gemacht. Aber im Leben weint man nie wirklich aus dem Grund, den man glaubt. Man weint aus Einsamkeit und weil die Liebe nicht da ist, wie sie sollte, und nimmt jedes traurige Lied zum Weinen. Sacha und der Wachtmeister warten mit verschränkten Armen auf den Notar, ich schaue zum Kaminsims und freue mich, dass Njama sich so gut mit Pistache steht. Wenn Pistache sich kratzt, wartet Njama auf ihn. Wenn Njama sich leckt, kratzt sich Pistache. Wenn Pistache vorangeht, läuft Njama hinterher. Wenn Njama Hunger hat, hat Pistache auch Hunger. Wenn Pistache schläft, tut Njama nichts. Pistache und Njama sind nicht wie Hund und Katze. Sacha ärgert sich, dass sein Hund einen neuen Freund hat. Ihm ist es lieber, wenn Pistache nur Augen für ihn hat,
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