Im Schutz der Nacht
und war barfuß, was Cal einen Schreck einjagte, bis er den Haufen von alten Kleidern entdeckte, der aus einem Karton gezogen worden war; sie hatte die Sachen zum Zudecken benutzt.
Der Speicher war nicht fertig ausgebaut; die Hälfte des Bodens war mit Sperrholzplatten abgedeckt, im restlichen Bereich waren die nackten Sparren zu sehen, zwischen denen Isoliermatten lagen. Der abgedeckte Bereich war mit Kram vollgestellt: einer ordentlich verklebten Weihnachtsbaumverpackung, alten Spielsachen, einem auseinandergenommenen Kinderbett, Kartons voller Krimskrams. Gebückt bahnte er sich einen Weg durch das Gewirr bis zu
Gena, die an eine alte Kommode gelehnt dasaß. Angelina krabbelte zu ihrer Mutter, und Gena legte den Arm um sie und drückte sie.
Gena war kreideweiß, doch Cal konnte nirgendwo Blut sehen, als er sich neben ihr auf einem Knie niederließ. Im Speicher war es düster, nur durch die Spalten im Dach und durch die Lüftungsschlitze drang Licht, allerdings nicht genug, um etwas zu erkennen. Er nahm ihr Handgelenk und prüfte ihren Puls; er ging zu schnell, aber kräftig, sie stand also nicht unter Schock. »Wo bist du verletzt?«
»Am Knöchel.« Ihre Stimme klang gepresst und fast tonlos. »Er ist verstaucht.« Sie atmete tief und bebend ein. »Mario ...?«
Als Cal mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigte, fiel ihr Gesicht in sich zusammen. »Er ... er hat gesagt, wir sollen uns hier oben verstecken, und er würde nachschauen, was da los ist. Ich habe die ganze Nacht auf ihn gewartet und gehofft, dass er uns endlich holt, aber ...«
»Welcher Knöchel?«, schnitt Cal ihr das Wort ab. Sie konnte ihren Ehemann noch lange genug betrauern, er hingegen hatte viel zu erledigen und viel zu wenig Zeit.
Sie zögerte, ihre Augen füllten sich mit Tränen, dann deutete sie auf ihren rechten Knöchel. Cal schob behände das Hosenbein nach oben, um festzustellen, wie schlimm die Verletzung war. Die Antwort war: schlimm. Ihr Knöchel war so stark angeschwollen, dass ihre Socke gedehnt wurde und über dem Bund ein dunkelblauer Fleck zu sehen war. Sie war noch nicht bettfertig gewesen, als die ersten Schüsse gefallen waren. Darum trug sie Jeans und Turnschuhe, weil es so kalt war, hatte sie die Schuhe nicht ausgezogen. Das war gut, denn andernfalls hätte Gena sie nicht wieder anziehen können. Und das hätte sie mächtig gebremst.
»Es war so kalt«, meldete sich Angelina zu Wort und sah ihn ernst mit ihren großen, dunklen Augen an, während sie den Kopf an ihre Mutter schmiegte. »Und dunkel. Mommy hat eine Taschenlampe gehabt, aber die ist ausgegangen.«
»Immerhin hat sie lang genug geleuchtet, dass wir die Schachtel mit alten Kleidern finden konnten, um uns warm zu halten«, sagte Gena und atmete bebend ein, weil sie nicht vor ihrer Tochter in Tränen ausbrechen wollte.
Cal fand vor Bestürzung keine Worte. Sie hatte ihre Taschenlampe eingeschaltet und angelassen? Sie hatte verfluchtes Glück gehabt, dass sie und ihre Tochter noch am Leben waren, weil durch jede Spalte, durch die das Sonnenlicht hereinfiel, nachts das Licht nach draußen leuchtete. Die Tatsache, dass der Speicher nicht von Einschüssen perforiert war, bekräftigte seine Vermutung, dass die Schützen Infrarot- und keine Nachtsicht-Zielfernrohre verwendeten; Nachtsichtgeräte hätten die schwachen, durch die Ritzen dringenden Lichtstrahlen verstärkt und den Speicher zum Leuchten gebracht wie ein Neonschild mit der Aufschrift: »Hier schießen!«
Sie hatten alles falsch gemacht, aber irgendwie hatten sie trotzdem überlebt. Mann. Manchmal lief es eben so.
»Wir sammeln uns alle bei den Richardsons«, sagte er. »Deren Keller ist geschützt. Er ist nicht so groß, dass wir alle dort bleiben könnten, aber er wird schon reichen, bis Creed und ich etwas überlegt haben.«
»Ü-überlegt? Ruft die Polizei! Das ist doch klar!«
»Die Leitungen sind gekappt. Strom haben wir auch keinen. Wir sitzen fest.« Während er das sagte, sah er sich um und versuchte etwas zu finden, das sie als Krücke nehmen konnte. Nichts. Er musste sich etwas einfallen lassen, aber eines kam nach dem anderen. »Okay, erst einmal müssen wir euch von diesem Speicher herunterbringen; hier oben seid ihr ungeschützt. Angelina muss was Warmes und Schuhe anziehen ...«
»Ich kann nicht gehen«, sagte Gena. »Das habe ich schon probiert.«
»Hast du einen Stützverband, mit dem ich den Knöchel umwickeln kann? Ich suche dir
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